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Wie das Coronavirus uns Angst macht

Samstag, 20. Juni 2020 – Autor:
Es verändert soziale Beziehungen und Familien, die Arbeit und die Freizeit. Aber wir sehen es nicht. Und keiner weiß, ob es nicht schon in ihm ist, ob es noch kommt – oder ob alles längst unbemerkt überstanden ist. Ein Psychiater der Oberberg-Fachkliniken erklärt, welche kollektiven Ängste die COVID-19-Pandemie in uns auslöst. Und wie manche zu viel davon haben – und manche zu wenig.
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Wahnsinn: Das Coronavirus sieht man nicht, aber es erzeugt Ängste – kollektive wie individuelle.

Die Corona-Pandemie hat weltweit Ängste geschürt. Neben der Sorge vor einer Ansteckung mit dem Virus SARS-CoV-2 stellte sich bei vielen Menschen eine Angst vor Jobverlust, gesundheitlichen Folgen oder dem Verlust der eigenen Freiheit ein. Anders als bei bekannten Phobien gegen bestimmte Situationen oder Objekte, wie zum Beispiel enge Räume, Höhe oder Tiere, stellt die Pandemie eine unsichtbare Bedrohung dar. Die Neuartigkeit des Virus steigert die Unsicherheit zusätzlich, weil erfolgreiche Verhaltensmuster fehlen oder zumindest nicht erprobt sind, um entsprechend reagieren und sich vor der Entstehung von Ängsten schützen zu können. Viele erleben die Coronakrise als fundamentales Bedrohungsgefühl.

Unterschied zwischen kollektiver Angst und individueller

Angst ist zunächst nichts Schlimmes, sagen die Psychologen. Angst an sich schützt, sie mahnt zur Vorsicht. Sie ist eine normale Reaktion, die bei realen Bedrohungen auftritt. Üblicherweise ist Angstempfinden individuell, die Pandemie führte jedoch zu einer kollektiven Angst. Doch kann die allgemeine Verunsicherung durch die derzeitige Situation auch eine individuelle Angststörung auslösen? Und führen die derzeitigen Lockerungen rund um Corona dazu, dass die Ängste abnehmen?

Auch zu wenig Angst kann gefährlich sein – gerade in Corona-Zeiten

Angst ist zunächst etwas Gesundes und schützt. „Gerade in Krisen ist Angst zunächst als emotionale und affektive 'Sofortreaktion' angelegt und sinnvoll“, sagt Matthias Müller, Ärztlicher Direktor und Medizinischer Geschäftsführer der Fachklinikgruppe Oberberg. „Denn diejenigen, die sich vermeintlich angstfrei Gefahren aussetzen, nehmen in der Regel auch häufiger Schaden.“ Mit zunehmender zumindest subjektiver Kontrolle über das Pandemiegeschehen, etwa durch den Rückgang der Infektionszahlen oder fehlende ernste Krankheitsverläufe im eigenen Umfeld, reduziere sich in der Regel das Angstniveau, auch durch Habituation (Gewöhnung), ob angemessen oder nicht.

Selbst Corona-Lockerungen können als Bedrohung empfunden werden

„Bei manchen Menschen macht sich das Müllers Einschätzung zufolge als unangemessen geringe Angst und Sorge bemerkbar, ,als ob schon alles vorbei wäre'", sagt Müller. „Bei anderen kann sich jedoch die Angst weitgehend unabhängig von den objektiven Entwicklungen unbemerkt weiterentwickeln, jede auch vernünftige ,Lockerung'  wird zur zusätzlichen Bedrohung. Dies kann zu irrationaler oder unangemessener Angst führen oder gar Angststörungen auslösen."

Naive Gott-Ergebenheit schützt nicht vor COVID-19

Ein Beispiel für einen arglosen Umgang mit der Gefahr durch das Coronavirus machte erst vor einer Woche Schlagzeilen. Nach einem Gottesdienst in einer freikirchlichen Gemeinde in Bremerhaven kam es zu mindestens 112 bekannten Infektionen und einem Todesfall. Hier führen Experten die Ausbreitung nicht nur auf kleinere Kirchenräume zurück, sondern auch auf eine zu naive Bibel- oder Gottesgläubigkeit, nach der „der Herr die Seinen schützt“. Deshalb hätten sich die Gemeindemitglieder in trügerischer Sicherheit gewähnt, sagt ein Religionsexperte.

Der Verlust von Routinen löst Unsicherheit aus

Darüber hinaus kommt noch ein zweiter Mechanismus ins Spiel. „Unser Alltag hat sich durch die Pandemie und auch durch die Schutzmaßnahmen dramatisch verändert. Vieles, was im Alltag als sicher angesehen wurde, musste aufgegeben werden. Viele neue Dinge sind dazugekommen und vieles davon in kurzer Zeit“, erläutert Andreas Jähne, Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura, Bad Säckingen. Dieser Verlust von Routinen könne Unsicherheit auslösen und bei Unsicherheit empfänden viele Menschen Angst. Dazu kämen noch ganz konkrete Sorgen um Angehörige und ganz reale Ängste vor finanziellen Folgen und beruflichen Konsequenzen.

Eine Rolle spielt hier die sogenannte Resilienz, die innere Festigkeit gegenüber psychischer Belastung. Je nachdem, wie gut unsere Fähigkeiten sind, solche Herausforderungen zu meistern, kann der Einzelne damit gut umgehen, während für andere diese Unsicherheit eine große Herausforderung darstellt", sagt Jähne. Mit bestimmten Maßnahmen wie Körperübungen, guter Ernährung und einer aktiven Kontaktpflege lässt sich auch in Corona-Zeiten die Resilienz stärken.

Angsterkrankung heißt oft: Vermeidungsverhalten

In Abgrenzung zu den kollektiven Angsterlebnissen wie in Coronazeiten gibt es auch individuelle Angsterkrankungen. „Eine Angststörung entsteht meist nicht aus heiterem Himmel, oft haben Betroffene eine vererbte Neigung zu dieser Erkrankung, oder auch angstprägende und auch traumatische Ereignisse in der Lebensgeschichte", erklärt Jähne. Bei Angststörungen erlebt der Betroffene eine gesteigerte und situationsunangemessene Angst in eigentlich ungefährlichen Situationen. Das Gemeinsame aller Angststörungen ist, dass die Angst sehr intensiv ist und lange anhält und nicht mehr der realen Gefahr angemessen ist. Die Angst scheint für Betroffene unkontrollierbar zu sein. Sie haben die Tendenz, aus der bedrohlichen Situation zu fliehen oder diese zu vermeiden. Dieses Verhalten führt zu deutlichen Einschränkungen in der Lebensführung, weil immer mehr angstbehaftete Situationen vermieden werden.

Foto: AdobeStock/denisismagilov

Hauptkategorie: Medizin
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