Berlin kann Modellregion für digitale Gesundheit werden - muss sich aber erheblich anstrengen

Nicht nur cool und sexy: Berlin braucht mehr Mittel und politische Unterstützung, um die europaweit führende Modellregion für digitale Gesundheit zu werden. Ulf Fink diskutiert mit Experten das Zukunftsthema schlechthin
Niemand würde ernsthaft behaupten, dass Deutschland in der digitalisierten Medizin international konkurrenzfähig ist. Ernüchternde Zahlen legte zum Beispiel gerade das Wissenschaftliche Institut der AOK in seinem neuen Krankenhausreport vor. Danach liegt der Digitalisierungsgrad der deutschen Kliniken 40 Prozent unter EU-Durchschnitt. Das bedeutet unter anderem, dass mehr als jedes dritte Haus hierzulande keinerlei Informationssysteme für große diagnostische und versorgende Abteilungen installiert hat, sich informationstechnisch also auf dem Stand des vorigen Jahrhunderts befindet.
Dabei herrscht Einigkeit darüber, dass Digitalisierung der Schlüssel für eine bessere Medizin und für ein wirtschaftlicheres Gesundheitssystem ist, dass Wissen heute aus Big Data geschaffen wird, dass Künstliche Intelligenz einer der wichtigsten Zukunftszweige ist.
Niemand würde abstreiten wollen, die Politik habe den Handlungsbedarf nicht erkannt. Die Bundesregierung schielt dabei auf Berlin und will die Hauptstadtregion zu einer Modellregion für die Digitalisierung im Gesundheitswesen entwickeln. Der Berliner Senat verfolgt mit seiner Digitalisierungsstrategie und einer Expertenkommission „Gesundheitsstadt Berlin 2030“ ganz ähnliche Ziele: Wenn es einen Hotspot für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz gibt, dann in Berlin!
Schafft Berlin den Sprung zum digitalen Hotspot?
„Es wäre wunderbar, wenn es so kommen würde. Aber schaffen wir in Berlin auch den Sprung in eine digitalisierte Medizin?“, fragte Ulf Fink am Dienstag auf der Fachtagung „Digitalisierung im Gesundheitswesen – Chancen für Berlin“, zu der Gesundheitsstadt Berlin Vertreter aus Politik, Gesundheitswirtschaft und Wissenschaft geladen hatte.
Als Erster durfte Berlins Finanzsenator Dr. Matthias Kollatz seine Einschätzung abgeben. Die Stadt habe mit ihrer hohen dichten Klinikdichte, ihrer einmaligen Forschungslandschaft, den hohen Patientenzahlen, ihren neu geschaffenen Professuren und Ausbildungsprogrammen und den gut 100 Start-ups im Bereich Digital Health die besten Voraussetzungen, auch beim Thema Digitalisierung in die Offensive zu gehen. „Aber diese Position wird umkämpft sein“, betonte er. Darum könne Berlin zwar international der Gesundheitsstandort für digitale Gesundheit sein, müsse es aber nicht zwangsläufig werden. „Ausgemacht ist das noch nicht“, sagte Kollatz.
Noch fehlt die Vernetzung
Fakt ist: In Sachen Digitalisierung steht Berlins Gesundheitswesen im Augenblick auch nicht besser da als irgendein Örtchen in Niederbayern oder Ostfriesland. Hier wie dort bekommen Patienten ihre Röntgenbilder auf CDs gebrannt, faxen Kliniken Befunde an niedergelassene Kollegen oder stecken ihre Arztbriefe in die Post. Schuld daran sind nicht nur altmodische Gewohnheiten, sondern fehlende Schnittstellen.
Selbst Kliniken oder Arztpraxen, die intern schon digitale Strukturen geschaffen haben, sind bei der Übermittlung von Patientendaten an externe Leistungserbringer noch auf Gedrucktes oder Gebranntes angewiesen. „In Richtung der niedergelassenen Ärzte gibt es keinen Datenaustausch, mit anderen Häusern gibt es keinen Datenaustausch und auch mit Patienten gibt es keinen Datenaustausch“, beschrieb Prof. Dr. Lutz Fritsche, Vorstand der Paul-Gerhard-Diakonie die Insellage der digitalisierten Klinikgruppe, die sich lieber heute als morgen mit den anderen vernetzen würde.
Allerdings glaubt der Klinikchef nicht daran, dass das zügig gelingen wird. Vielmehr könnten bald die ersten Patienten mit ihren eigenen Gesundheitsdaten vor der Tür stehen, etwa mit einer Lösung von Apple. „Ich glaube, dass der Anstoß eher aus dieser Richtung kommt“, betonte Fritsche. Kliniken, die mit den Daten nichts anfangen könnten, hätten dann ein weiteres Problem.
„Müssen mit Volldampf nach vorne"
Auch das Deutsche Herzzentrum (DHZB), das schon früh auf Digitalisierung gesetzt hat, stößt täglich an die Grenzen einer fehlenden Vernetzung, etwa wenn Konsile an der Charité per Fax angemeldet werden müssen oder Notfallpatienten eingeliefert werden, deren Daten aber auf der Strecke bleiben. „Ich denke wir können nicht noch zehn Jahre warten“, sagte DHZB-Direktor Prof. Volkmar Falk. „Denn wenn wir es nicht tun, dann tun es andere, deswegen kann ich nur sagen: Mit Volldampf nach vorn.“
Als ein wichtiger Treiber für die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird die elektronische Patientenakte gesehen. Am 1. Januar 2021 wird sie für alle Krankenkassen Pflicht. Endlich, sagen viele. Doch nicht nur, dass dieser Akt mehr als 20 unrühmliche Jahre gedauert hat. Zum Unmut der Leistungserbringer wird es keine einheitliche Patientenakte geben, sondern theoretisch so viele unterschiedliche Modelle, wie es Krankenkassen gibt.
Ist also schon das nächste Chaos vorprogrammiert? „Wenn wir Daten produzieren, dann müssen die allen zur Verfügung stehen“, sagte Peter Gocke, Chief Digital Officer der Charité. „Das geht aber nur, wenn wir Schnittstellen überwinden und einheitliche Standards haben.“ Doch in Deutschland gibt es keinen Standard, wie Gesundheitsdaten formatiert sein müssen. Ärzte, Kliniken und andere Leistungserbringer werden also im Jahr 2021 vor der Frage stehen, wie sie es bewerkstelligen sollen, Dutzende und schlimmstenfalls 130 verschiedene elektronische Patientenakten in ihre Systeme einzulesen.
Standards für die elektronische Patientenakte gefordert
Wäre es sinnvoll, dass die Politik hier eine Vorgaben macht? warf Ulf Fink ein, so dass jeder Anbieter die Daten in einem bestimmten Format ablegen muss? „Auch wenn wir meist keine Freunde von Regulierungen sind, hier würde ich mir tatsächlich eine Regulierung wünschen“, sagte Gocke.
Nicht nur die anwesenden Klinikvertreter, sondern auch Frank Michalak, Vorstand der AOK Nordost, stimmten ihm zu. Standards und Regulierungen seien in diesem Bereich extrem wichtig. „Es muss eine unabhängige Stelle geben, die das steuert“, sagte Michalak.
Um die elektronische Patientenakte voranzutreiben, hat die AOK gemeinsam mit der Techniker Krankenkasse bereits vor mehr als drei Jahren ein einzigartiges Pilotprojekt gestartet. Gemeinsam mit dem Berliner Krankenhauskonzern Vivantes wurde eine einheitliche Schnittstelle für den Datenaustausch entwickelt, die sich am internationalen Technikleitfaden IHE orientiert. Mit der einheitlichen Schnittstelle soll perspektivisch für weitere Krankenhäuser, Ärzte und Leistungserbringer im Gesundheitswesen ein standardisierter Anschluss an verschiedene Akten möglich sein. Patienten, die eingewilligt haben, können heute schon ihre Akte über eine App einsehen.
Die gemeinsame Lösung zeige, dass die Anbindung an Gesundheitsaktensysteme mit einer einheitlichen Schnittstelle möglich sei, meinte Vivantes-Geschäftsführerin Dr. Andrea Grebe. „Wir sind besessen davon, den Berlinerinnen und Berlinern die Erfolge zu zeigen.“ Derzeit sei man mit weiteren großen Ersatzkassen und Kliniken im Gespräch, um für die offene Plattform zu werben. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kolat lobte das Vorhaben, weil auch sie 130 Einzellösungen für nicht praktikabel hält und Berlin hier tatsächlich schon Vorreiter ist. „Das ist ein tolles Projekt für Berlin“, sagte Kolat. „Und es kann kurzfristig umgesetzt werden.“
Daten aus Versorgung und Forschung zusammenführen kostet Geld
Was allerdings noch fehlt, ist, die Daten aus der Versorgung mit Daten aus der Forschung zusammenzuführen. Das ist eine entscheidende Voraussetzung, wenn aus Berlin tatsächlich ein Ökosystem für Innovationen werden soll. Damit ließen sich dann nicht nur überflüssige Doppeluntersuchungen und gefährliche Medikamentenkombinationen verhindern. Die Vernetzung ermöglicht vor allem auch neue Erkenntnisse und kann die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern, was letztlich allen Patienten nützt.
Ein erster Schritt wäre, dass sich die forschende Charité und Vivantes zusammentun. Beide landeseigenen Unternehmen versorgen zusammen fast die Hälfte der stationären Patienten in Berlin. Allein diese Daten haben einen enormen Mehrwert für die Versorgung und für die klinische Forschung.
Charité-Dekan Prof. Axel Radlach Pries wies darauf hin, dass zweistellige Millionenbeträge für die Schaffung der entsprechenden IT-Infrastruktur nötig wären. Das sei im Verhältnis zu dem Effekt, den das auf die Wirtschaftskraft haben würde, aber relativ wenig. „Da ist man bisweilen zu kurzsichtig“, sagte er. Und weiter: „Wenn ich mir anschaue, wie viel Geld amerikanische Kliniken jedes Jahr in IT stecken, haben wir in Deutschland noch einen weiten Weg zu gehen.“ So investiert eine Johns Hopkins University oder eine Mayo Clinic jedes Jahr rund 4 bis 5 Prozent ihres Umsatzes in IT, in deutschen Kliniken beträgt dieses Investment dagegen weniger als 1 Prozent.
Genau wie der Finanzsenator bescheinigte der Charité-Dekan und Interimsvorstand des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung (BIH) Berlin realistische Chancen, die Vorzeigeregion Europas zu werden – verbunden mit einem Aber. „Diese Chance haben wir nicht ewig lang, wir müssen sie jetzt nutzen.“
Start-ups könnten bald abwandern
Wenn es jedoch beim Datenaustausch nicht bald mit „Volldampf“ vorangeht, könnte es passieren, dass Berlin bald seine Attraktivität für junge, ambitionierte Leute und Investoren verliert. Die sind nämlich nicht bloß hier, weil Berlin so cool und sexy ist.
Eher das Gegenteil sei der Fall, meinte Dr. Markus Müschenich, Gründer des Flying Helath Incubators Berlin. „Der Bau des Berliner Flughafens hat viel Vertrauen zerstört. Berlin wird nicht zugetraut, dass Geplantes auch durchgezogen wird“, sagte er.
Dass sich Berlin trotzdem mit der europaweit größten Start-up-Szene im Bereich Digital Health rühmen kann, liegt offenbar allein daran, dass es hier gute Kliniken gibt, die wertvolle Daten haben. „Die Hoffnung, an die Infrastruktur angebunden zu werden, ist definitiv der einzige Grund, warum Start-ups noch in Berlin bleiben“, erklärte Müschenich. Doch ewig werde das nicht mehr gehen. „Die schauen sich das noch ein, zwei oder drei Jahre an, und wenn das nicht funktioniert, dann sind die weg.“
Neben dem Zugang zu Daten spielt auch Geld keine unwichtige Rolle. 120 bis 150 Millionen Euro, das sind nach Auskunft Müschenichs die Summen, die ein Start-up braucht, um erfolgreich zu werden. Berlin müsse zusehen, diese Gelder irgendwie zu beschaffen. Andernfalls könnte der Traum von der Zukunftsregion irgendwann platzen.
Potsdam forscht jetzt mit Daten aus den USA
In Potsdam geht man einen anderen Weg - unabhängig von der Politik und Geldern der öffentlichen Hand. Das finanzkräftige Hasso-Plattner-Institut hat gerade gemeinsam mit dem renommierten Universitätsklinikum Mount Sinai Health System in New York ein Institut für Digital Health gegründet. Für die Forschung im Bereich der digitalen Medizin und die Entwicklung neuer Anwendungen stehen dem neuen Institut rund fünf Millionen Datensätze von gesunden und kranken Amerikanern in Echtzeit zur Verfügung. Nach Auskunft von Christian-Cornelius Weiß, Managing Director der HPS Gesundheitscloud gGmbH, einem Unternehmen des Hasso-Plattner-Instituts, sollen die extrem sicher gespeicherten und verschlüsselten Daten helfen, Leben zu retten, Krankheiten zu verhindern und die Gesundheit zu verbessern. Das Beste daran: „Die Daten können auch von Forschern in Deutschland genutzt werden.“
Die Hauptstadtregion verfügt zwar über mindestens genauso viele Daten, doch momentan liegen diese Schätze noch zersplittert in einzelnen Systemen. Nach Einschätzung von Prof. Axel Radlach Pries bräuchte Berlin ungefähr zwei bis drei Jahre, um eine vergleichbare Plattform aus Versorgungs- und Forschungsdaten aufzubauen. Technisch sei das alles machbar und für die Umsetzung könnte man etwa das Erfolgsrezept aus den USA kopieren: „Standardisierung, Finanzierung und ein gutes Schema für alle.“ Praktisch sei man in Berlin jedoch gerade dabei, das Thema gründlich zu zerreden.