Hauptstadtkongress zur Digitalisierung der Medizin: Mehrwert wie beim Online-Shopping

Siegeszug der digitalen Revolution: Top-Thema beim Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2019
Mit dem Motto „Gesundheitspolitik, Gesundheitsversorgung, Gesundheitsberufe in Zeiten des digitalen Wandels“ wirft der Hauptstadtkongress einen Blick in die Zukunft des Gesundheitswesens. Vernetzte Leistungserbringer, papierlose Arbeitsplätze, Künstliche Intelligenz (KI), Big Data und Roboter werden über kurz oder lang das Gesundheitssystem radikal verändern, lautet die Prognose des wichtigsten Branchentreffs. Ob das einen Mehrwert bringt oder Arbeitsplätze vernichtet, darüber wurde insbesondere in der Eröffnungsveranstaltung am Dienstag leidenschaftlich diskutiert.
Daten retten Leben, sagt ein Big Data Experte
Befürworter der Digitalisierung sagen zum Beispiel, dass Daten die Präzision und Effizienz der Behandlung verbessern. Einer, der einen starken Mehrwert sieht, ist Prof. Dr. Roland Eils, Gründungsdirektor des Zentrums für Digitale Gesundheit am Berlin Institute of Health der Charité. Gestützt auf Erkenntnisse aus der Krebsforschung, wo bereits trainierte KI-Algorithmen basierend auf molekularen Genomsequenzierungen Krebspatienten in Gruppen einsortieren und passende Substanzen finden, behauptet der Spitzenforscher sogar: „Daten retten Leben.“ Voraussetzung sei aber, man lasse endlich den Austausch von Daten aus der Versorgung mit den Methoden und Daten aus der Forschung zu, sagte Eils bei der Eröffnung des Hauptstadtkongresses am Dienstag in Berlin.
Ein großes schwarzes digitales Loch
Allerdings ist das Teilen von Gesundheitsdaten in dieser Form momentan nur innerhalb von Forschungsprojekten möglich, wie sie etwa der Spitzenforscher Eils in Berlin und Heidelberg betreibt. Nicht einmal innerhalb der Ärzteschaft werden Versorgungsdaten ausgetauscht, geschweige denn besteht eine Verknüpfung zur Forschung. „Nirgendwo wird so viel gefaxt wie in der Medizin“, beschrieb Prof. Bertram Häussler, den Status Quo. Der Leiter des IGES-Instituts zitierte Studien, wonach das deutsche Gesundheitssystem im europäischen Vergleich den letzten Platz beim Austausch von Daten einnimmt und den vorletzten bei der Digitalisierung in Krankenhäusern. „Deutschland befindet in einem schwarzen Loch, was die Digitalisierung des Gesundheitssystems betrifft“, resümierte Häussler.
Deutsche offen für das Teilen von Gesundheitsdaten
Doch die Deutschen sind keine online-Muffel. 80 Prozent der Internetnutzer buchen mittlerweile ihre Reisen online. Fast ebenso viele würden auch gerne ihre Gesundheitsdaten teilen, erklärte Häussler. „Warum? Weil sie auch hier die gleichen Vorteile für sich sehen wie beim Online-Shopping.“ Sie könnten das aber nicht, so Häussler, weil sich das Establishment gegen sie verschworen habe.
Kongresspräsident und Diskussionsmoderator Ulf Fink griff die Provokation gerne auf „Stimmt das?“, fragte er. „Hat sich die Ärzteschaft gegen die Digitalisierung verschworen?
Nein, so sei es ganz sicher nicht, meinte Prof. Axel Ekkernkamp, Leiter des Ärzteforums. Aber Digitalisierung könne man nicht von oben diktieren, es müsse auch ein konkreter Nutzen für den niedergelassenen Arzt und seine Praxis erkennbar sein. „Wenn wir darauf keine vernünftige Antwort haben, dann macht das auch keiner“, sagte Ekkernkamp.
Digitalisierung kostet die Leistungserbringer Geld
Tatsächlich bedeutet die Digitalisierung für niedergelassene Ärzte wie auch Kliniken zunächst einen deutlichen Mehraufwand. Teure Hard- und Software muss angeschafft und aus den laufenden Einnahmen finanziert werden. Dass durch mehr Transparenz zum Beispiel Doppeluntersuchungen vermieden werden, davon profitiert das Gesundheitssystem als Ganzes, aber nicht unbedingt der einzelne Leistungserbringer.
Geld spielt also keine unwesentliche Rolle, warum sich das Gesundheitssystem noch in einem digitalen schwarzen Loch befindet. Man habe sich in den letzten Jahren zu sehr auf Personalkosten konzentriert und dabei die Bedeutung von Sachkosten vernachlässigt, kritisierte Prof. Heinz Lohmann, der Leiter des Klinikforums. „Das ist für die Modernisierung des Gesundheitswesens ein falsche Logik."
Maschinen können Menschen entlasten
Dabei könnten Maschinen das Personal sinnvoll entlasten, etwa bei der Auswertung von Röntgenbildern oder dem Einsortieren von Pillen in die Pillendöschen. Die Digitalisierung sei gerade bei knappem Personal eine riesen Chance, meinte Lohmann. Jobs würden nicht vernichtet, nur die Arbeit an sich werde verändert, „so dass mehr Zeit für die Patienten bleibt.“
Ärztevertreter Ekkernkamp stimmte dem im Großen und Ganzen zu. „Dass sich die Ärzteschaft abschafft, das wird nicht der Fall sein“, betonte der Ärztliche Direktor des Unfallkrankenhauses Berlin.
Pflege fordert anwendernahe Lösungen
Und wie sehen Pflegekräfte die Digitalisierung? Laut Hedwig Francois Kettner ist eine große Bereitschaft da, den digitalen Wandel mitzugehen. Gerade in puncto Arbeitsentlastung und Patientensicherheit verspreche man sich viel davon, meinte die Pflegeexpertin. Allerdings müssten neue Systeme nah an den Anwendern entwickelt werden. Beim Lifter, einem Hilfsmittel zur Mobilisierung von bettlägerigen Patienten, sei dies zum Beispiel versäumt worden. „Es hat Jahre gedauert, bis der Lifter in der Pflege Akzeptanz gefunden hat“, sagte Kettner.
Es braucht also gute technische Lösungen, die vom Anwender her gedacht werden. Aber auch die politischen Rahmenbedingungen müssen stimmen, wenn Patientendaten künftig übers Internet abgewickelt, Gesundheits-Apps auf Rezept verschrieben werden oder eben Maschinen bestimmte Dienstleistungen übernehmen sollen. Hier müsse die Politik noch nachlegen, hieß es, um alle beim digitalen Wandel mitzunehmen. Oder wie es die Tochter des IT-Experten Uwe Peter ausdrückte: "Damit ihr die Chancen der Digitalisierung nicht vermasselt"