Misophonie – psychische Erkrankung oder Überempflichkeit?
Essgeräusche, häufiges Räuspern, das Klackern eines Kugelschreibers – für manche Menschen sind normale Alltagsgeräusche so unerträglich, dass sie wütend werden oder den Raum verlassen müssen. Dass diese Probleme tatsächlich existieren, ist bekannt, doch welchen Stellenwert diese Störung hat und ob es sich um eine psychische Krankheit handeln könnte, ist umstritten. Bisher ist das Problem zumindest nicht offiziell als psychische oder neurologische Störung anerkannt. Nun haben Neurowissenschaftler mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) die Veränderungen der Hirnstrukturen von Betroffenen untersucht. Sie konnten zeigen, dass tatsächlich eine Störung der emotionalen Kontrollmechanismen im Gehirn vorliegt.
Selbstwahrnehmung ist bei Misophonie gesteigert
Für ihre Analyse untersuchte das Forscherteam um Sukhbinder Kumar von der Universität Newcastle in England die Hirnaktivität von 20 Menschen mit Misophonie. Dazu wurden den Probanden Geräusche vorgespielt, auf die sie mit einer Erhöhung des Herzschlags und der galvanischen Leitfähigkeit der Haut reagierten – Zeichen für eine Stressreaktion.
Die Forscher konnten zeigen, dass die Geräusche bei den Betroffenen zu einer Aktivierung der vorderen Inselrinde (AIC) führten. Dabei handelt es sich um eine Hirnregion, in der Sinneseindrücke mit Emotionen verknüpft werden. Dabei werden unbewusst auch Signale, die vom Körper selbst ausgehen, wie beispielsweise der Herzschlag, bewertet. Diese sogenannte Interozeption oder Selbstwahrnehmung scheint bei Menschen mit Misophonie gesteigert zu sein.
Grund für Veränderungen bleibt ungeklärt
Die Untersuchungen ergaben aber noch andere Besonderheiten bei den Betroffen. So kam es zu einer besonders starken Verbindung der AIC mit anderen Hirnregionen, unter anderem der Amygdala, in der Gefühle wie beispielsweise Angst verarbeitet werden, dem hinteren Gyrus cinguli, der die Verbindung zum Gedächtnis herstellt, und dem Hippocampus, in dem unter anderem darüber entschieden wird, welche Inhalte in den Erinnerungsspeicher aufgenommen werden. Zudem konnten die Neurologen zeigen, dass bei Menschen mit Misophonie die Neuronen im ventromedialen präfrontalen Cortex (vmPFC), einem der zentralen Steuerungszentren im Gehirn, eine verstärkte Myelinisierung zeigen, was auf eine dauerhafte Schädigung hinweisen könnte.
Nach Ansicht der Studienautoren sind dies alles Hinweise darauf, dass es sich bei Misophonie tatsächlich um eine Störung mit Krankheitscharakter handelt. Wie es zu diesen Veränderungen, beispielsweise zur der verstärkten Selbstwahrnehmung kommt, können die Forscher nicht erklären. Möglicherweise, so ihre Vermutung, sind sie auf traumatische Kindheitserlebnisse zurückzuführen.
Misophonie: Krankheit oder keine Krankheit?
Doch welche Bedeutung haben diese Erkenntnisse nun? Dass Menschen, die auf bestimmte Reize anders beziehungsweise empfindlicher reagieren als andere, auch andere Gehirnstrukturen aufweisen, ist nicht verwunderlich. Dass es sich dabei aber tatsächlich um eine neu entdeckte Krankheit handeln könnte, halten manche Kritiker für übertrieben. Letztlich geht es aber vor allem darum, Menschen, die wirklich unter Misophonie leiden, zu helfen. Denn für manche Betroffenen sind die Geräusche ihrer Mitmenschen eine solche Qual, dass sie nicht mehr am normalen Alltagsleben teilhaben können beziehungsweise ihren Alltag umstrukturieren, um den Geräuschen aus dem Weg zu gehen. Spätestens dann hat das Phänomen pathologische Züge angenommen. Für diese Menschen können die neuen Erkenntnisse durchaus hilfreich sein, indem ihr Leiden nun einen objektiven, physiologisch überprüfbaren Hintergrund bekommen hat.
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