Gefahr von Fehlbildungen: Gebärfähige Frauen bekommen oft kindsschädigende Medikamente

Experten fordern ein Recht auf einen Medikationsplan für Frauen im gebärfähigen Alter. So soll verhindert werden, dass sie Medikamente nehmen, die dem Embryo schaden können. – Foto: AdobeStock/puhhha
60 Jahre nach dem Contergan-Skandal werden die Risiken von bestimmten Arzneimitteln für ungeborene Kinder offenbar noch immer ignoriert. Das geht aus dem Barmer-Arzneimittelreport 2021 hervor. Demnach wurden im Jahr 2018 allein in Berlin rund 46.000 Frauen im gebärfähigen Alter Arzneimittel verordnet, die ein potenzielles Missbildungsrisiko für Säuglinge in sich bergen. Laut Berechnungen der Barmer sind das 5,3 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe. Bundesweit sind demnach rund 1,3 Millionen Frauen betroffen.
Fehlbildungen beim Embryo: Schon in den ersten Schwangerschaftswochen möglich
„Eine ärztliche Beratung zur Medikation erfolgt bei den meisten Schwangeren zu spät“, warnt Gabriela Leyh, Landesgeschäftsführerin der Barmer Berlin/Brandenburg. „Denn Fehlbildungen beim Embryo können bereits in den ersten Schwangerschaftswochen entstehen.“ Für Frauen im gebärfähigen Alter fordert die Kassen-Chefin deshalb eine vollständige Dokumentation aller je Person verschriebenen Arzneimittel, die für alle behandelnden Ärzten zugänglich sein müsse, mit dem Ziel der Transparenz.
Fehlender Überblick der Medikation kann zum Verhängnis werden
Die von der Barmer beanstandeten Wirkstoffen zählen zu den „Teratogenen“. Dieser Begriff beschreibt alle äußeren Einwirkungen, die Fehlbildungen beim Embryo hervorrufen können. Zu diesen fruchtschädigenden Einflussfaktoren gehören Chemikalien, Viren und ionisierenden Strahlen. Teratogene „sind in einer großen Bandbreite von Arzneimitteln enthalten und können bei der Einnahme während der Schwangerschaft zu Missbildungen beim ungeborenen Kind oder Fehlgeburten vor allem in den ersten Schwangerschaftswochen führen“, warnt die Barmer deshalb in einem aktuellen Statement. Ein dramatisches Beispiel dafür war im 20. Jahrhundert das Medikament Contergan.
Was war der Contergan-Skandal?
Der Contergan-Skandal war einer der aufsehenerregendsten Arzneimittelskandale in der Bundesrepublik Deutschland und wurde in den Jahren 1961/1962 aufgedeckt. Contergan war ein millionenfach verkauftes Beruhigungsmedikament mit dem Wirkstoff Thalidomid. Es half unter anderem auch gegen die typische morgendliche Übelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase und galt im Hinblick auf Nebenwirkungen als besonders sicher.
Später aber zeigte sich, dass das Präparat bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft Schädigungen in der Wachstumsentwicklung von Föten hervorrufen kann, also bei werdenden Kindern im Mutterleib. Bei Neugeborenen kam es zu einer Häufung von schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder gar dem Fehlen (Amelie) von Gliedmaßen und Organen. Schätzungen zufolge waren weltweit 5.000 bis 10.000 Kinder betroffen.
Potenziell fruchtschädigende Medikamente: Außerhalb einer Schwangerschaft offenbar wenig problematisch
„Grundsätzlich ist die Einnahme von Teratogenen vor der Schwangerschaft nicht das Problem“, sagt Barmer-Landesgeschäftsführerin Leyh. „Bei entsprechenden Krankheitsbildern, wie zum Beispiel einer Epilepsie, haben diese Arzneimittel eine wichtige Bedeutung. Spätestens nach Eintritt der Schwangerschaft sollten Teratogene aber tabu sein.“
Frauen erfahren erst nach Wochen von der Schwangerschaft – und nahmen zuvor nichtsahnend Medikamente
Die Abklärung, ob riskante Arzneimittelverordnungen bei der Schwangeren vorliegen, erfolgt nach Einschätzung der Barmer jedoch meist zu spät. Die meisten Frauen erfahren erst in der fünften Schwangerschaftswoche von ihrer Schwangerschaft. In der siebten erfolgt im Mittel die erste Besprechung der Arzneimitteltherapie beim Gynäkologen. Die Organe des Embryos sind jedoch schon in der achten Schwangerschaftswoche angelegt. Deshalb heißt es bei der Barmer: „Folglich muss die Sicherheit der Arzneimitteltherapie schon vor der Schwangerschaft gewährleistet sein – zumal laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jede dritte Schwangerschaft ungeplant oder zeitlich ungewollt ist.“
Barmer fordert Rechtsanspruch auf Medikationsplan
Frauen im gebärfähigen Alter sollten nach Ansicht der Barmer einen Rechtsanspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan erhalten. Bisher besteht ein solcher Rechtsanspruch nur für Versicherte bei einer Dauermedikation mit mindestens drei Medikamenten. „Bei Frauen im gebärfähigen Alter sollte nicht ausschlaggebend sein, ob sie ein oder mehrere Arzneimittel einnehmen. Jedes Arzneimittel sollte grundsätzlich auf mögliche Schwangerschaftsrisiken geprüft werden und das Ergebnis im Medikationsplan eingetragen werden. Nur so kann das Risiko für ungeborene Kinder reduziert werden“, sagt Geschäftsführerin Leyh.
Viele werdende Mütter setzen aus Angst auch unproblematische Arzneimittel ab – ebenfalls ein Risiko
Noch ein weiteres Risiko tut sich bei vielen schwangeren Frauen auf: Sie setzen aus Angst in eigener Regie alle ihre Medikamente ab – selbst wenn sie fürs Kind harmlos sind. „Ein Medikationsplan würde den Frauen auch mehr Sicherheit geben“, heißt es dazu bei der Barmer. Denn nicht nur die Fortführung teratogener Arzneimittel, auch das Absetzen verordneter Arzneimittel ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt könne Mutter und Kind gefährden.
In einer Befragung der Krankenkasse gaben 22 Prozent der Teilnehmerinnen an, dass sie in der Schwangerschaft verordnete Arzneimittel aus Angst vor Schädigung des Kindes abgesetzt hätten – häufig ohne vorherige ärztliche Rücksprache. Mehr als die Hälfte der befragten Frauen (52 Prozent) gab an, Angst vor einer Schädigung des Kindes durch die Arzneimitteltherapie während der Schwangerschaft gehabt zu haben. „Hier bedarf es mehr Aufklärung und Transparenz“, heißt es dazu bei der Barmer.