Experte: „In der Coronakrise hat das amerikanische System versagt”

Betont den großen Nutzen Künstlicher Intelligenz für die medinische Forschung: Prof. Dr. Erwin Böttinger
Fast zwei Millionen Corona-Infizierte und über 100.000 Tote durch COVID-19: Die bisherige Bilanz der Coronakrise in den USA ist verheerend. Dennoch können US-Bürger langsam etwas aufatmen: „Das Schlimmste ist überstanden“, konstatiert auch Erwin Böttinger. Der Mediziner, der heute als Professor für Digital Health am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam wirkt, lehrte von 2004 bis 2015 als Professor am New Yorker Krankenhausinstitut Mount Sinai. Im Podcast-Interview mit Franz Dormann, Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin, spricht er über das amerikanische Gesundheitssystem und die Entwicklung neuer Therapien.
Minderheiten oft stärker betroffen
Tatsächlich seien die Infektions- und Todeszahlen in den USA deutlich zurückgegangen, stellt der Gesundheitsexperte fest. Doch zuvor war die Lage dramatisch. Alleine in New York gab es rund 20.000 Todesfälle durch SARS-CoV-2. Dass es nun endlich zu einer Wende kam, sei nur dem strengen Lockdown zu verdanken gewesen, so Böttinger.
Doch warum war New York überhaupt so stark betroffen? Böttinger führt dies unter anderem auf die heterogene Population der Großstadt zurück, in der es sehr viele Minderheiten gibt. Aufgrund der oft mangelhaften Gesundheitsversorgung dieser Bevölkerungsgruppen weisen sie häufig Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma auf. „Und dass schwere COVID-19-Verläufe vor allem bei Menschen mit diesen Vorerkrankungen auftreten, wissen wir“, so der Experte. Dennoch stünden genauere Untersuchungen zu diesem Thema noch aus.
Amerikanisches Gesundheitssystem hat versagt
Was das Gespräch ebenfalls verdeutlicht: Auch wenn das Gesundheitssystem über hervorragende Mediziner und Forscher verfügt, weist es nach wie vor immense Probleme auf. Denn viele Amerikaner sind nicht krankenversichert – ein Problem, das trotz wiederholter Ansätze bisher nicht gelöst werden konnte, wie Böttinger betont. Zwar gebe es große Bemühungen, die Situation zu verbessern, doch bisher ohne Ergebnis. Böttinger: „Die Diskussion gibt es in den USA seit Jahrzehnten und sie geht weiter.“
Ein Grund für die Widerstände sei der stark individualistische Grundgedanke in den Vereinigten Staaten. „Wir haben in den USA nicht das Verständnis von einer Solidargemeinschaft wie in Deutschland“, betont Böttinger. Daher seien auch die Widerstände gegen den Lockdown in Folge der Corona-Pandemie sehr viel stärker gewesen. Die Coronakrise habe deutlich die Schwächen des Gesundheitswesens in den USA gezeigt. „In dieser Stresssituation hat das amerikanische System einfach versagt.“ Auch große Hoffnungen auf eine baldige Veränderung der Situation macht sich der Digitalisierungsexperte nicht.
Künstliche Intelligenz hilft bei Entwicklung von Therapien
Dass die medinische Forschung in den USA dennoch teilweise erstaunliche Erfolge vorweisen kann, konnte Böttinger selbst am Institut Mount Sinai zeigen. Dort wurde unter anderem eine Studie durchgeführt, die gezeigt hat, dass Blutverdünner bei COVID-19-Patienten zu einem milderen Verlauf führen können.
Für die Studie wurden Daten von COVID-19 Patienten mit moderner IT ausgewertet. „Wir haben großen Aufwand betrieben und Personal und Ressourcen darauf ausgerichtet, alle Daten aus unserem Krankenhausinformationsdienst über COVID-19-Patienten auszuwerten.“ So konnten in kurzer Zeit Daten aus allen medizinischen Bereichen – von der klinischen Dokumentation und den Laborergebnissen über die radiologische Auswertung bis zur Medikation – analysiert werden.
„Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz konnten wir zudem erkennen, welche Parameter besondes aussagekräftig für den weiteren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung sind.“ So haben die Forscher festgestellt, dass vor allem bestimmte Laborergebnisse den Krankheitsverlauf bestimmen: Lagen Marker vor, die auf eine Blutgerinnungsstörung hindeuteten, und bekamen die davon betroffenen Patienten Gerinnungshemmer verabreicht, konnte die Schwere der Erkrankung deutlich abgemildert werden. „Dies ist ein Beispiel, wie wir durch die computerbasierte Auswertung von Daten sehr schnell zu Ergebnissen kommen.“ Um die Ergebnisse dann auch möglichst schnell der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde zunächst ein Kurzbericht veröffentlicht.
COVID-19 verläuft milder mit Blutgerinnungshemmern
In einer zweiten Publikation sollen die Erkenntnisse nun noch einmal genauer beleuchtet werden. Die Forscher konnten auch frühere Berichte bestätigen, dass es bei bereits vorliegenden Thromben zu schwersten und sich sehr schnell verschlechternden Verläufen von COVID-19 kommt.
Auch zu Therapien wurden am Mount Sinai Studien durchgeführt. Sie konnten beispielsweise die Wirksamkeit der sogenannten passiven Immunisierung bestätigen: Dabei wird Patienten, die eine COVID-19-Erkrankung überstanden haben und die einen hohen Antikörperspiegel aufweisen, Blutplasma entnommen, das dann anderen Patienten infundiert wird. Da die Methode sehr aufwändig ist, bleibt sie jedoch bisher nur sehr schweren Fällen vorbehalten.