„Coronakrise verhilft digitaler Medizin zum Durchbruch”

"Wir müssen die Corona-Pandemie mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts bekämpfen": Jörg Debatin, Leiter des Health Innovation Hub beim Bundesgesundheitsministerium.
In der Corona-Krise macht die Kraft des Faktischen Dinge möglich, die noch vor Kurzem weit weg oder surreal erschienen. Auch bei der Digitalisierung der Medizin tut sich viel. Dabei ist sie ein Spagat: hier die Euphorie über die vielen neuen Möglichkeiten von Prävention, Diagnostik und Behandlung; dort die Skepsis, ob der Datenschutz wirklich funktioniert – angesichts der so persönlichen Gesundheits- und Krankheitsdaten der Menschen, die nur die behandelnden Ärzte wirklich etwas angehen und die vor Missbrauch sicher sein sollten.
Jörg Debatin ist Leiter des „Health Innovation Hub“, eines vor einem guten Jahr vom Bundesgesundheitsministerium gegründeten, elfköpfigen Beratergremiums für Fragen rund um die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Als langjähriger Vorstandsvorsitzender hatte er das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) auf ein führendes digitales Niveau gehoben. Im Podcast-Interview mit Franz Dormann, Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin, spricht der Radiologe über die Auswirkungen der Coronakrise auf Medizin und Gesundheitssystem, das Sie hier als schriftliche Zusammenfassung lesen können.
„Durch Corona hat es einen wahnsinnigen Schub gegeben“
„Ja, ich glaube, eine der wenigen positiven Konsequenzen, die Corona mit sich bringt, ist, dass die digitale Medizin in Deutschland einen Durchbruch erleben wird“, sagt Debatin. Als anschauliches Beispiel führt er die Videosprechstunden zwischen Ärzten und Patienten an. Im Januar 2020 hätten bundesweit rund 1.400 Mediziner diese Dienstleistung angeboten, heute seien es über 120.000. „Das heißt: Durch Corona hat es einen wahnsinnigen Schub gegeben und der Nutzen ist natürlich offensichtlich.“ Die Dynamik in Richtung digitaler Technologe sei auch an der Entwicklung von Apps für die Bevölkerung abzulesen, weil sich jeder damit selbst informieren kann und aufgrund des eigenen Risikoprofils Einschätzungen vornehmen kann – der besorgte Mensch, der mögliche Patient. „Die Menschen sehen, welcher Nutzen mit digitalen Technologien in der Medizin einhergehen kann.“ Das Robert-Koch-Institut (RKI) wirbt um Daten für eine von ihm herausgegebene App, um Erkenntnisse für die Ausbreitung des Coronavirus zu gewinnen.
Elektronische Patientenakte: COVID-19-Behandlung wäre leichter
Debatin richtet in dem Gespräch Kritik an die skeptischen, bremsenden Kräfte in Politik und Gesellschaft. „Hätten wir die Elektronische Patientenakte, dann würden wir uns erheblich leichter tun mit den medizinischen Konsequenzen dieser Pandemie.“ Dem Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) bescheinigt Debatin, trotz intensiver Auslastung durch die Corona-Pandemie die Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter zu betreiben. Noch vor zwei Jahren habe es eine „Fernbehandlungsverbot“ gegeben. Wenn uns mal überlegen, wo wir vor zwei Jahren waren und wo wir heute sind, dann muss man sagen: Es hat wirklich viele Fortschritte gegeben.“ So begrüßt Debatin, dass die Bundesregierung mit dem PDSG die gesetzlichen Grundlagen zur Ausgestaltung der Elektronischen Patientenakte zum Jahresbeginn 2021 und die Einführung des elektronischen Rezepts zur Jahresmitte auf den Weg gebracht habe.
Bei aller Begeisterung sieht Debatin aber auch die Notwendigkeit, der Bevölkerung Nutzen und Möglichkeiten der digitalen Medizin überzeugend zu vermitteln und dabei die Sorge um eine mögliche Verletzung von Grundwerten wie dem Persönlichkeitsrecht ernst zu nehmen. Tracing App, digitales Corona-Zertifikat, digitaler Immunitätsausweis: Dinge wie diese werden in der Gesellschaft nicht zu Unrecht kontrovers diskutiert.
Beachtung von Grundwerten steigert Akzeptanz für Digitalisierung
„Die Menschen sind durchaus bereit zu helfen, wenn sie Sinn und Nutzen einer Applikation erkennen“, sagt Debatin. Für Debatin liegt in diesen digitalen Optionen ein zentraler Schlüssel zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Social Distancing und Quarantäne, sagt der Radiologe, seien Methoden aus anderen Zeiten. „Wir brauchen die Instrumente dieses Jahrhunderts, um die Pandemie zu bekämpfen, und nicht nur die der letzten Jahrhunderte. Aber die Akzeptanz werden wir nur dann erhalten, wenn wir die Grundlagen unserer Werte nicht opfern. Dazu zählen vor allem die Freiwilligkeit und die Anonymisierung von groß angelegten Datensätzen.
Bei allem Enthusiasmus und bei allem zeitlichen Drang dürfen wir diese Werte nicht über Bord kippen, sondern müssen sagen: Nein, wir haben dafür hart gearbeitet, sie sind uns wichtig, wir erhalten sie auch in einer solchen Krisensituation. So können wir zeigen, dass dieser Spagat zwischen dringlichem Nutzen in einer Pandemiekrise und der Einhaltung dieser Grundwerte wie dem Schutz persönlicher Daten, machbar ist.“