Diabetes Typ 2 – die nächste Pandemie

Im Kampf gegen Diabetes fordern Experten inzwischen eine „Zuckersteuer“, um das Einkaufsverhalten der Verbraucher zugunsten der eigenen Gesundheit zu steuern – wie bei der Tabaksteuer. Konkret: keine oder kaum Mehrwertsteuer auf natürliche Lebensmittel – und Steuersätze von bis zu 25 Prozent auf Produkte mit viel Zucker, Fett und Salz. – Foto: AdobeStock/Gina Sanders
Beim Wort „Pandemie“ denken wir immer noch an Erreger wie das neuartige Coronavirus, die um die Welt ziehen und sich in der Menschheit ihre Opfer suchen. Hab‘ ich’s schon – oder hab‘ ich’s nicht? Die Ungewissheit kann gespenstisch sein. Viel gefährlicher als die übertragbaren Krankheiten sind für die Menschen inzwischen aber die Krankheiten, die gar nicht übertragen werden können – auch wenn das zunächst harmloser klingt. „Nichtübertragbare Krankheiten sind weltweit die häufigste Ursache für verlorene Lebensqualität und vorzeitigen Tod“, heißt es bei der „Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten“ (DANK). 86 Prozent der vorzeitigen Todesfälle gingen zurück auf Krebs, Herzkreislauf- und Nieren-Erkrankungen, Diabetes und chronische Atemwegserkrankungen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat deshalb die Stoffwechselkrankheit Diabetes bereits zur „Pandemie“ erklärt, also einer auf dem gesamten Globus grassierenden Krankheit mit hohen Fallzahlen. Im Interview mit dem Fachportal „Pharma-Fakten.de“ schlägt auch die „Deutsche Diabetes Gesellschaft" (DDG) jetzt Alarm. Der Diabetologe und Sprecher der DDG, Prof. Dr. Baptist Gallwitz, erklärt darin, warum es immer mehr Menschen mit Diabetes-Typ-2 gibt, warum Freiwilligkeit bei der Lebensmittelindustrie keinen Erfolg hatte – und was passieren müsste, um gegenzusteuern: bei der Politik, in Kindergärten und Schulen, in Supermärkten.
Diabetes: „Die Pandemie wütet bereits“
Im Zusammenhang mit Diabetes ist in letzter Zeit häufig von einer Epidemie die Rede. Ist es wirklich so schlimm?
Gallwitz: Leider ja. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat bereits 2012 Diabetes zur Pandemie erklärt. Und diese Pandemie wütet bis heute. Allein in Deutschland gibt es jedes Jahr zwischen 500.000 und 600.000 neue Diabetesfälle. Derzeit leben hier mindestens 8 Millionen Menschen mit Diabetes. Man rechnet damit, dass es 2040 mindestens 12 Millionen sein werden. Weltweit dürfte die Zahl der Menschen mit Diabetes von derzeit knapp einer halbe Milliarde Menschen bis zum übernächsten Jahrzehnt auf 750 Millionen steigen, also um 50 Prozent.
Woran liegt das?
Gallwitz: Nun, wir leben heute in einer ganz anderen Welt als unsere Vorfahren. Menschen, die salopp gesprochen gute Futterverwerter sind, hatten als Jäger und Sammler einen Vorteil - denn es gab wenig zu essen und sie mussten sich viel bewegen. Heute haben wir ganz andere Umweltbedingungen. Bewegung ist eher zum Luxusgut geworden, für das man im Fitnessstudio einen Monatsbeitrag zahlt. Im Arbeitsleben gibt es immer weniger Berufe, die mit körperlicher Arbeit verbunden sind. Wir verbringen viel Zeit im Sitzen und vor allem: Wir essen ganz anders. Wir nehmen mehr Kalorien zu uns als in früheren Zeiten und wir essen viel zu viele industriell hergestellte Fertigprodukte. Das führt zur Epidemie und da müssen wir gegensteuern.
„Nicht nur ein medizinisches Problem – ein gesellschaftliches“
Wie sollte dieses Gegensteuern Ihrer Einschätzung nach aussehen?
Gallwitz: Das ist nicht nur ein medizinisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es reicht nicht, nur an die Einzelnen zu appellieren, dass sie ihr Verhalten ändern sollen, sondern wir brauchen eine so genannte Verhältnisprävention.
Das müssen Sie erklären.
Gallwitz: Verhältnisprävention bedeutet: Man schafft eine Lebenswelt, in der die einfachere Wahl auch die gesündere Wahl ist. Es muss attraktive Angebote für Bewegung und für gesünderes Essen geben - und zwar für eine breite Bevölkerungsschicht. Konkret bedeutet das: In Kindergärten und Schulen muss mindestens eine Stunde Bewegung pro Tag garantiert sein - und zwar so, dass Kinder und Jugendliche auch Spaß daran haben. Zugleich muss es Standards für gesunde Ernährung geben, die dann auch verbindlich umgesetzt werden.
„Obst, Gemüse und Getreideprodukte von der Mehrwertsteuer befreien“
Aber wie, bitte, können Standards für gesunde Ernährung umgesetzt werden? Dass Gemüse gesünder ist als ein Schokoriegel, wissen wir doch alle. Trotzdem futtern wir zu viele Süßigkeiten.
Gallwitz: Das stimmt, und deshalb sollten Lebensmittel unterschiedlich besteuert werden. Natürliche Lebensmittel wie Gemüse, Obst, Getreideprodukte sollten von der Mehrwertsteuer befreit oder zumindest mit einem sehr niedrigen Satz belegt werden. Im Gegenzug könnte man auf Fertiglebensmittel aus dem Kühlregal 19 Prozent Mehrwertsteuer erheben, also etwa auf Fertigpizza und Fruchtjoghurt. Limonaden und andere Süßgetränke könnte man noch höher besteuern, mit 25 Prozent oder mehr.
Welche Vorteile hätte das?
Gallwitz: Die Menschen würden ihr Einkaufsverhalten ändern. Und: Die Lebensmittelindustrie würde sich darauf einstellen und andere, gesündere Rezepturen verwenden. In anderen Ländern funktioniert das bereits, etwa in Großbritannien, wo eine Zuckersteuer eingeführt wurde. Daraufhin haben einige internationale Lebensmittelkonzerne zuckerreduzierte Produkte im britischen Markt eingeführt.
DDG fordert Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel
In Deutschland dagegen ist in den vergangenen Jahren nicht viel passiert.
Gallwitz: So ist es. Es gibt bei uns eine Nationale Diabetes-Strategie, die sogar in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde - was uns bei der Deutschen Diabetes Gesellschaft sehr gefreut hat. Aber dann wurde nur wenig umgesetzt. Der Nutriscore wurde zwar als Nährwertkennzeichnung für Lebensmittel eingeführt, aber leider nur auf freiwilliger Basis und nicht verpflichtend, wie wir uns das gewünscht hätten – und wie es ihn in Frankreich schon länger gibt. Bislang fehlt bei uns auch eine abgestufte Mehrwertsteuer, wie ich sie eben erläutert habe und es gibt noch kein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel, die speziell von Kindern konsumiert werden.
Lebensmittelindustrie: „Freiwillige Appelle reichen nicht aus“
Es besteht also politischer Nachholbedarf?
Gallwitz: Absolut. Ein Problem liegt darin, dass Gesundheitsthemen in unterschiedlichen Ministerien untergebracht sind. Der Verbraucherschutz gehört aus Sicht der DDG nicht in das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, sondern ins Gesundheitsministerium. Dort müsste es dann eine oder einen Bundesbeauftragten für die Diabetesprävention geben. Im Übrigen reichen freiwillige Appelle nicht aus. Sondern es müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Änderung möglich machen. Denn bei einer Neuerkrankungsrate von 500.000 Menschen pro Jahr laufen wir in einen ungeheuren Pandemiedruck hinein.
Wie hoch sind die Therapie- und Folgekosten der Diabetes-Behandlung?
Gallwitz: Die Behandlungskosten für Diabetes liegen in Deutschland bei rund 21 Milliarden Euro jährlich. Davon abgesehen ist auch das individuelle Leid sehr groß - Menschen, deren Diabetes schlecht behandelt oder zu spät erkannt wird, leiden an Folgeerkrankungen und haben eine um 6 bis 10 Jahre kürzere Lebenserwartung.
(Interview: www.pharma-fakten.de)
Morgen folgt Teil 2 des Interviews. Darin: Warum Diabetes vom Typ 2 oft erst spät erkannt wird, wie das die eigene Lebenserwartung verkürzt – und wie ein gesunder Lebensstil aussieht, mit dem man sein persönliches Risiko, diese Zivilisationskrankheit zu bekommen, aktiv senken kann.