Warum Kinder suchtkranker Eltern selbst psychisch gefährdet sind

Sind Eltern süchtig, leiden die Kinder sehr – Foto: ©Viacheslav Iakobchuk - stock.adobe.com
In Deutschland wachsen rund drei Millionen Kinder in Familien mit mindestens einem suchtkranken Elternteil auf. 2,65 Millionen Kinder haben mindestens ein alkoholabhängiges Elternteil, bei über 60.000 Kindern sind Vater oder Mutter opiatabhängig, und etwa 37.500 bis 150.000 Kinder haben glücksspielsüchtige Eltern. Die seelische und körperliche Gesundheit der betroffenen Kinder wird durch diese Situation häufig massiv beeinträchtigt, und auch die Langzeitfolgen sind schwerwiegend. Untersuchungen konnten zeigen, dass ein Drittel der Kinder, deren Eltern süchtig sind, später selbst eine Suchterkrankung entwickelt. Ein weiteres Drittel (teilweise überlappend mit dem ersten Drittel) entwickelt psychische oder soziale Störungen. Das letzte Drittel trägt augenscheinlich keine Beeinträchtigungen davon.
Doch auch diesen Kindern fällt es später oft schwer, ihren Platz im Leben zu finden und ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln. Häufig haben sie ihr ganzes Leben lang das Gefühl, „nicht in Ordnung“ zu sein und nicht so sein zu dürfen, wie sie sind. Nicht selten suchen sie sich später selbst einen suchtkranken Lebenspartner und wiederholen so die gewohnten Beziehungsmuster.
Hilflosigkeit und Überforderung
Alkoholismus (und auch jede andere Sucht) verändert den ganzen Menschen – auch seine Art zu denken und zu fühlen, wie Ursula Lambrou in ihrem Buch „Familienkrankheit Alkoholismus. Im Sog der Abhängigkeit“ beschreibt: „Seine Stimmungen sind vom Alkoholpegel im Blut abhängig. Mal ist er verträglich bis euphorisch, dann wieder gereizt und aggressiv, mal zeigt er sich übertrieben spendabel, obwohl das Geld knapp ist, dann wieder weint er vor Selbstmitleid oder fühlt sich als der Größte.“
Für die Kinder von alkoholkranken beziehungsweise süchtigen Eltern bedeutet das: Ob ein Tag gut oder schlecht wird, hängt maßgeblich von der momentanen Stimmung des süchtigen Elternteils ab. Alles dreht sich um das kranke Familienmitglied. Für die Kinder gibt es hingegen kaum Aufmerksamkeit, ihre Bedürfnisse fallen häufig unter den Tisch.
Parentifizierung der Kinder häufig
Sehr häufig verkehren sich sogar die Verhältnisse: Die Kinder fühlen sich für die kranken Eltern verantwortlich und übernehmen schon sehr früh Aufgaben, für die sie noch viel zu klein sind. Sie kümmern sich um den Haushalt, versorgen jüngere Geschwister oder kontrollieren den Alkoholkonsum des süchtigen Elternteils. Oft verhalten sich die Kinder, als wären sie die Eltern ihrer Eltern. Experten nennen dieses Verhalten „Parentifizierung". Die Folgen: Überforderung und Hilflosigkeit.
Eine weitere Konstante im Leben der Kinder ist Unsicherheit. Die Kinder erleben emotionale Wechselbäder, durch die sie stark verunsichert werden. Wie Seismografen versuchen sie, jedes Anzeichen für eine drohende Stimmungsschwankung zu erkennen und sich darauf einzustellen, und sind doch der Unberechenbarkeit der Familiensituation ausgeliefert.
Scham und Angst erschweren Entwicklung von Selbstvertrauen
Nicht nur Hilflosigkeit und Überforderung prägen den Alltag, auch Scham und Angst sind täglicher Begleiter in Suchtfamilien. Häufig gibt es Aggressionen, gegen die Kinder oder den Ehepartner. Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, leben betroffene Kinder in ständiger Angst. Immer wieder machen sie die Erfahrung, dass sie sich auf ihre Eltern nicht verlassen können und dass sie den Worten anderer nicht vertrauen können. Es gibt kaum Sicherheit und Geborgenheit. Jahrelang bewegt sich die Familie zwischen neuer Hoffnung und Enttäuschung. Alkoholrückfälle und nicht eingehaltene Versprechen führen in der Gefühlswelt des Kindes zu Misstrauen und Angst. Da es die Eltern nicht als starke Vorbilder erlebt, fällt es ihm schwer, später Vertrauen in sich selbst zu entwickeln.
Nicht selten glauben Kinder sogar, sie selbst seien schuld an der Sucht von Vater oder Mutter. Auch haben sie oft das Gefühl, nicht geliebt zu werden, denn Zuneigung und Aufmerksamkeit für die Kinder hängen meist davon ab, in welchem Zustand sich der süchtige Elternteil (und auch dessen Partner) gerade befindet. Gleichzeitig lieben die betroffenen Kinder ihre suchtkranken Eltern oft sehr. Sich gegen den Vater oder die Mutter stellen zu sollen, kommt ihnen wie „Verrat“ (Lambrou) vor. Die Folge ist eine innere Zerrissenheit, die oft ein Leben lang anhält.
Betroffenen Kindern das Gefühl geben, nicht alleine zu sein
Die eigentlich wichtige Frage ist: Wie können betroffene Kinder so gestärkt werden, dass sie sich trotz dieser schwierigen Lebensumstände gut entwickeln können? Forschungen zeigen hier verschiedene Wege auf, wie man Kindern helfen kann. Zum einen ist es wichtig, dass sie verlässliche Beziehungen zu (anderen) Erwachsenen aufbauen. Auch hilft es sehr, wenn sie wissen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden. Die Drogenbeauftragte der amtierenden Bundesregierung rät dazu, betroffene Kinder anzusprechen. Oft ist schon das Gefühl, über die eigene Situation reden zu können, sehr hilfreich.
Gezielt sollte bei Kindern aus suchtkranken Elternhäusern vor allem daran gearbeitet werden, die eigenen Bedürfnisse und Interessen wahrzunehmen und umzusetzen – denn das fällt ihnen oft besonders schwer. Je nach Alter ist es ebenfalls wichtig, dass sie die elterliche Sucht als Krankheit verstehen und wissen, dass sie selbst schuldlos daran sind. Das Schlechteste für Kinder in dieser Situation ist leicht benannt: Wegzuschauen.
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