
Das Bundesteilhabegesetz soll die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung deutlich verbessern – Foto: ©industrieblick - stock.adobe.com
Eine selbstbestimmte und volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben - für Menschen mit Behinderung ist das immer noch keine Selbstverständlichkeit, obwohl die Rechte für psychisch oder körperlich beeinträchtigte Bürger seit den 1960er Jahren schrittweise gestärkt worden sind. So hat nach Auskunft des Vorsitzenden von Gesundheitsstadt Berlin Ulf Fink, Senator a.D., zum Beispiel nur ein Bruchteil der psychisch Kranken eine Arbeit. „Der Teilhabegedanke ist mehr als eine gute medizinische und pflegerische Versorgung“, sagte Fink in seiner Begrüßungsansprache auf der Fachtagung „Umsetzung Bundesteilhabegesetz – Weichenstellung für Teilhabe in Berlin“ am 29. November in Berlin. „Es geht um eine echte Teilnahme am Leben.“
Volle und selbstbestimmte Teilhabe angestrebt
Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) will der Bund die Situation für Betroffene nun deutlich verbessern. Das Ziel einer vollen, selbstbestimmten und wirksamen Teilhabe wurde im Gesetzestext wortwörtlich aus der UN-Behindertenrechtskonvention übernommen. „Das ist das Leitbild, an dem wir uns orientieren, und ein echter Systemwandel“, sagte Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf der Fachtagung, die von Gesundheitsstadt Berlin organisiert worden war.
Der Systemwandel sei nötig, meinte Schmachtenberg, da das alte System sehr stark von den Institutionen bzw. Angeboten bestimmt gewesen sei. Ob jemand zum Beispiel eine stationäre oder teilstationäre Leistung erhielt, sei von den verfügbaren Angeboten abhängig gewesen und habe die Lebenslagen der Menschen bestimmt, nach dem Motto: ‚Hier sind noch Betten frei‘. „Das gilt es mit dem Gesetz nun zu durchbrechen“, erklärte der Staatssekretär, der das Gesetz maßgeblich mitgestaltet hat.
Personenzentriert und streng geregelt
Künftig soll es umgekehrt laufen: Das System wird vom Individuum her gedacht. Personenzentriert, heißt deshalb das entscheidende Stichwort. Es bedeutet, dass für den Betroffenen ein umfassender Teilhabeplan erstellt wird, der sich am individuellen Unterstützungsbedarf ausrichtet, egal wie viele unterschiedliche Träger letzten Endes daran beteiligt sind.
Laut Schmachtenberg wird die Grundidee, dass der erst angegangene Träger handeln und mit anderen Trägern kooperieren muss, jetzt konsequent verfolgt. Alle müssen dabei dasselbe Verfahren beachten, und zwar bundesweit „Das Gesetzt beschreibt die Prozesse sehr dezidiert, fast wie eine Richtlinie“, sagte er. Neu ist auch, dass die Träger einmal im Jahr über die Teilhabeverfahren berichten müssen. „Das schafft mehr Tansparenz“, so Schmachtenberg.
Um die Teilhabeverfahren sowie die Stellung der Betroffenen zu stärken, wurden bundesweit schon 510 unabhängige Beratungsstellen mit 50 Millionen Euro Bundeshilfen installiert. Spätestens am 1. Januar 2020 müsen alle Beratungsstellen in Deutschland arbeitsfähig sein. Als weiteres Highlight hob Schmachtenberg eine neue Regelung hervor, wonach das Einkommen des Ehepartners künftig nicht mehr auf Unterstützungsleistungen angerechnet wird.
Diese wie andere Regelungen werden dem Bundesbeamten zufolge begleitend evaluiert. Schließlich betritt man mit dem Gesetz ja Neuland. Erst Recht die Länder, die das Gesetz ja umsetzen und dafür eigene Ausführungsgesetze erlassen müssen. Darin wird geregelt, welche Behörde welche Arbeit macht.
Gesundheitsstadt Berlin hat auf seiner Fachtagung deshalb Vertreter des Landes Berlin und freier sozialer Träger nach ihren ersten Erfahrungen und dem Stand der Umsetzung gefragt. In einer spannenden Podiumsdiskussion erklärte Matthias Rosemann, Geschäftsführer der Träger gGmbH, dass das Gesetz hervorragend sei für Menschen, die ihre Ansprüche gut hervorbringen könnten. „Diese Menschen haben jetzt eine sehr gute Rechtsposition.“ Ein wenig Sorge habe er um diejenigen, die das nicht könnten, etwa aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung. „Wir hoffen, dass das Gesetz auch hier seine Wirkung entfaltet“, sagte Rosemann.
Ähnliche Bedenken äußerte der Geschäftsführer von der Lebenshilfe Berlin Erik Friedrich. Personen mit hohem Unterstützungsbedarf, die etwa eine 1:1 Begleitung benötigten oder sich nicht artikulieren könnten, hält er im Gesetz für nicht adäquat abgebildet. „Die Ideen und Konzepte für diesen Personenkreis sehe ich im Moment nicht.“ Andererseits bescheinigte er dem Gesetz viele gute Ansätze, die es auszuprobieren gelte. „Wir sind noch in einer Lernphase“, sagte er.
Große organisatorische Herausforderung
Zudem sprach Friedrich von einer großen organisatorischen Herausforderung für die Lebenshilfe. Dem stimmte Johnannes Pfeiffer, Geschäftsführer der Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Berlin-Brandenburg, zu. Insbesondere die neuen Fristen und Schnittstellen zu den anderen Rehaträgern seien sehr ambitioniert. „Den Gesamtbedarf gerade bei komplexen Fällen mit anderen Trägern abzustimmen, das ist schon eine große Herausforderung für uns“, sagte er. „Trotzdem finde ich es absolut richtig, dass wir als Rehaträger gefordert sind, schnelle und gut abgestimmte Entscheidungen zu treffen, die am Ende im Sinne der Personenzentrierung dann bei den Menschen ankommen, die sie brauchen.“
Dass auch die 50.000 Wohnungslosen und 6.000 Obdachlosen in Berlin eigentlich eine Eingliederungshilfe benötigen, dies aber oft aufgrund psychischer Beeinträchtigungen nicht artikulieren können oder möchten, darauf machte Dr. Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischer Wohlfahrtsverbands Berlin, aufmerksam. „Mir ist noch völlig schleierhaft wie hier niedrigschwellige Zugangsangebote aussehen sollen nach der Maßgabe der selbstbestimmten Teilhabe oder Nutzung des Hilfesystems“, sagte sie.
Ungelöst sieht sie auch die Frage, woher das Personal für die neu zu schaffenden Teilhabeämter kommen soll. Jetzt schon würde Personal bei den sozialen Organisationen abgeworben, künftig werde das mit Sicherheit noch massiver. „Wir haben die Sorge, dass hier eine Kannibalisierung der qualifizierten Kräfte in Berlin stattfindet“, sagte Schlimper. Hintergrund ist, dass Berlin bis zum 1. Januar 2020 vier Teilhabeämter schaffen und dafür rund 300 neue Mitarbeiter einstellen will.
Hilfen wie aus einer Hand
Die Teilhabeämter werden künftig maßgeblich den individuellen Unterstützungsbedarf in der Eingliederungshilfe ermitteln, und zwar losgelöst von der Sozialhilfe. Dies sei ein großer Fortschritt für Menschen mit Behinderung, meinte Dr. Thomas Götz, Landesbeauftragter für Psychiatrie, Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. „Die Hilfen erfolgen wie aus einer Hand, aber die Hilfen sind nicht in eine Hand gelegt“, beschrieb er das Vorhaben, das exakt der Idee des neuen Teilhabegesetzes entspricht.
Nach Auskunft von Dr. Sibyll-Anka Klotz, Leitung Projektgruppe BTHG, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, liegt Berlin bei der Schaffung der neuen Teilbehörden wie auch bei seinen anderen Verpflichtungen gut im Zeitplan. Ein Hilfebedarfsermittlungsinstrument namens TIPP gehe jetzt in die Pilotierungsphase, die Verhandlungen zum Rahmenvertrag stünden noch in diesem Jahr an. Darüber hinaus sei man mit dem Gesamtplanverfahren, das die Prozesse einheitlich für aller Bezirke in einer Rechtsverordnung definiert, auf einem guten Weg.
Viel Arbeit also, aber Klotz sieht mit dem Gesetz große Chancen verbunden. „Die neue Struktur macht viel mehr möglich“, sagte sie. „Wir müssen bloß aufpassen, dass wir das, was sich bisher bewährt hat, bewahren.“ Ihrer Ansicht nach ist das aber machbar. „Das Gesetz hat einen hervorragenden Rahmen geschaffen.“
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