Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst ist „historisches Ereignis“

Experten auf dem Demografiekongress 2020: Corona hat die Bedeutung des öffentlichen Gesundheitsdienstes ins Bewusstsein gerückt. v.l.nr. Dr. Ute Teichert, Moderator Rainer Hess, Uwe Lübking
Die Corona-Pandemie hat den Öffentlichen Gesundheitsdienst in ein neues Licht gerückt. Einerseits haben die 400 Gesundheitsämter im Lande maßgeblich dazu beigetragen, Infektionsketten zu unterbrechen und somit die Gesamtzahl der Corona-Infektionen auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau zu halten. Andererseits wurde schnell klar, dass die Ämter unterbesetzt sind und das 20 Jahre alte Meldewesen ziemlich veraltet ist.
Ein zentrales digitales Meldesystem für meldepflichtige Infektionskrankheiten, mit dem man nach einhelliger Meinung besser durch die Krise gekommen wäre, gibt es in Deutschland noch nicht. Das elektronische Melde- und Informationssystem (DEMIS), das den elektronischen Datenaustausch zwischen Ärzten, Laboren, Gesundheitsämtern und dem RKI ermöglichen soll, wird frühestens Ende kommenden Jahres fertig.
Handarbeit statt automatisierter Prozesse
Deswegen müssen die Mitarbeiter der Gesundheitsämter im Jahr 2020 immer noch den überwiegenden Teil ihrer Arbeit in Handarbeit erledigen. Vom Gesetz her sind sie verpflichtet, jede Meldung eines Erkrankungs- oder Verdachtsfalls anzunehmen, sei es nun die elektronische Meldung aus dem Labor, das Telefax aus der Arztpraxis oder den Anruf aus einer Kita. Theoretisch können Einrichtungen, die einen Verdachtsfall haben, sogar eine Postkarte ans Gesundheitsamt schicken. All diese Daten müssen dann erst einmal manuell zusammengeführt und abgeglichen werden – eine Sisyphosarbeit, die enorme Ressourcen verschlingt.
„Es gibt momentan keine Möglichkeit, diese Informationen digital zusammenzubringen“, beschrieb die Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen Dr. Ute Teichert am Donnerstag auf dem Demografiekongress in Berlin das Problem der fehlenden Schnittstellen. „Das ist es, was im Moment so viel Arbeit verursacht, was auch die Systembrüche ausmacht“, so die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes.
Vier Milliarden Euro für die Modernisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes
Durch die Pandemie sind die Defizite im Öffentlichen Gesundheitsdienst nun so überdeutlich ans Tageslicht getreten, dass sich Bund und Ländern zum Handeln gezwungen sahen. Im "Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst" stellt der Bund vier Milliarden Euro für mehr Personal, Digitalisierung und moderne Vernetzungsstrukturen zur Verfügung. Konkret sollen in den Ländern bis Ende kommenden Jahres mindestens 1.500 neue Stellen geschaffen werden, und bis Ende 2022 mindestens weitere 3.500 Vollzeitstellen. Die übrigen Milliarden sollen in die Digitalisierung der Gesundheitsbehörden und eine moderne IT-Infrastruktur fließen – Schnittstellen inklusive. „Das hat es in diesem Umfang nicht gegeben“, sagte Teichert. „Das ist ein historisches Ereignis, mit dem ich so nicht gerechnet habe.“
Uwe Lübking, Beigeordneter des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Berlin, hätte sich hinsichtlich des Zeithorizonts zwar ein etwas ehrgeizigeres Ziel gewünscht, begrüßte aber die Nachhaltigkeit des Paktes. „Der Pakt läuft bis 2026 und es ist schon eine Fortsetzung geplant“, lobte er. Das sei wichtig, da es unbedingt um die Schaffung unbefristeter Stellen gehen müsse.
5.000 neue Stellen – aber woher kommt das Personal?
Die 5.000 neuen Stellen sollen sowohl mit Ärzten als auch mit Fach- und Verwaltungspersonal besetzt werden. Das Problem: Fachkräfte werden überall händeringend gesucht. Gerade für Ärzte war die Arbeit in einem Gesundheitsamt bislang nicht gerade der Traum einer medizinischen Karriere: das Image angestaubt, die Bezahlung schlechter.
„Die Gesundheitsämter befinden sich in einem Wettbewerb, das ist nichts Neues“, sagte Kai Emanuel, Landrat des Landkreises Nordsachsen, Torgau. „Deshalb müssen wird die Vorteile des öffentlichen Dienstes mehr herausstellen und schon im Medizinstudium dafür werben.“ Zu den Vorteilen etwa zählten geregelte Arbeitszeiten, Wohnortnähe und je nach Bundesland auch die Verbeamtung.
Ute Teichert hob darüber hinaus die Vielseitigkeit und die gesellschaftliche Bedeutung des Berufes hervor. Als Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen habe man einen Überblick über sämtliche Fachdisziplinen, begleite die Menschen von der Geburt bis zum Tod, verhindere Krankheiten. „Wir haben die Bevölkerungsmedizin im Blick und tun was für die Gesellschaft“, sagte sie. Für sie sei es auch nach über 20 Jahren noch „der spannendste Beruf der Welt.“ Dennoch sei eine vernünftige Bezahlung unerlässlich, um den Beruf attraktiver für den medizinischen Nachwuchs zu machen, betonte Teichert. „Ich hoffe, dass da jetzt ein Umdenken stattfindet.“
Fit werden wie der online-Handel
Für den Direktor des Berliner IGES-Instituts Prof. Bertram Häusler steht die Personalfrage dagegen erst an zweiter Stelle. Priorität hat seiner Ansicht nach der Aufbau einer digitalen Infrastruktur. „Wir müssen uns überlegen, wie wir das Meldesystem Demis mit Smartphone-Anwendungen verbinden“, sagte er und führte als vorbildliches Beispiel den online Handel an, der weitaus mehr Daten weiterverarbeite. „800 bis 1.000 Neuinfektion am Tag sind bei modernen Prozessen keine Dimension“, betonte Häusler. Außerdem brauche man für die Fallverfolgung nicht unbedingt hoch qualifiziertes Personal. „Wenn wir diese Hausaufgaben gemacht haben, dann kann man sich überlegen, neue Ärzte einzustellen.“
Für die aktuelle Pandemie kommt der Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst ohnehin zu spät. Um für die nächste Pandemie gewappnet zu sein, ist in dem Papier eine „Armee von Reservisten“ angedacht, also ein Pool von ausgebildeten Fachkräften, auf die man im Ernstfall zurückgreifen kann. „Diesen Punkt begrüße ich sehr“, sagte Uwe Lübking. „Es zeigt, dass wir aus der Corona-Krise Lehren gezogen haben.“
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