Gesundheitssystem unter Stress: Jetzt Handeln, statt nur Reden

Der Nationale Qualitätskongress Gesundheit 2021 steht im Lichte der Pandemie: „Die Frustration zieht sich durch alle Berufsgruppen.“ V.l. nr. Anke Diehl, Franz Dormann, Johannes Danckert, Annemarie Fajardo
Lange Warteschlangen vor den Impfzentren, überlastete Intensivstationen, ein Gesundheitsminister, der sich selbst korrigieren muss – täglich zeigen uns Bilder, wie Deutschland der Pandemie hinterherläuft. In Italien glauben einige Menschen sogar, die Berichte aus Deutschland seien Fake-News. „Der Glaube ist erschüttert, wir seien ein gut organisiertes Land“, sagte Kongresspräsident Ulf Fink, als er den 15. Nationalen Qualitätskongress in Berlin unter 2G plus Bedingungen eröffnete. „Nach fast zwei Jahren Pandemie müssen wir feststellen, dass wir mit unseren Maßnahmen immer zu spät waren“, fuhr er fort. „Dies ist ernüchternd und deprimierend mit Blick auf eine notwendige präventive Gesundheitspolitik und Krisenvorsorge.“
Pflegekrise so schlimm wie nie
Schon vor der Krise gab es einen gravierenden Pflegekräftemangel. Nun spitzt sich die dramatisch Lage zu. Im Laufe des letzten Jahres haben Tausende Pflegekräfte wegen unzumutbarer Arbeitsbedingungen ihren Job geschmissen. Wie andere Kliniken auch hat der Klinikkonzern Vivantes im Vergleich zur dritten Welle 20 Prozent seiner Intensivkapazitäten verloren, weil Pflegepersonal gegangen ist. Man werde nun wieder Personal von anderen Stationen holen und kurzfristig für die Intensivpflege anlernen müssen, erklärte Vivantes-Geschäftsführer Dr. Johannes Danckert. „Die Frustration ist groß“, sagte er, der Frust ziehe sich aber nicht nur durch die Pflege, „sondern durch alle Berufsgruppen.“
Gerade hat Vivantes einen Tarifvertrag mit der Gewerkschaft verdi abgeschlossen, in dem sich der Konzern verpflichtet, 1.500 zusätzliche Pflegekräfte einzustellen. Es sei klar, dass dies angesichts eines Fachkräftemangels im sechsstelligen Bereich schwierig werden würde, meinte Danckert. Hochgerechnet auf ganz Deutschland würde diese Zahl 200.000 neue Pflegerinnen und Pfleger bedeuten. „Wir werden natürlich nichts unversucht lassen“, betonte der Vivantes-Chef und nannte Maßnahmen wie Rekrutierungskampagnen und das Werben mit besseren Arbeitsbedingungen.
Koalitionsvertrag enthält gute Punkte
Hoffnung machen einige Pläne aus dem neuen Koalitionsvertrag. Danach soll zum Beispiel der Bund eine Milliarde Euro für den „herausragenden Einsatz der Pflegekräfte während der Pandemie“ zur Verfügung stellen. 3.000 Euro vom Pflegebonus bleiben steuerfrei. Neben finanziellen Anreizen wollen die Koalitionäre „die Arbeitsbedingungen spürbar verbessern“, etwa durch die Einführung trägereigener Springerpools oder einen Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten.
Lockt man damit zumindest einen Teil der 330.000 Pflegekräfte, die in den letzten 25 Jahren ihren Beruf verlassen haben, zurück auf die Stationen in den Krankenhäusern und Pflegeheimen?, fragte Moderator Dr. Franz Dormann. Die Vize-Präsidentin des Deutschen Pflegerats Annemarie Fajardo ist skeptisch. „Es wäre toll, wenn die zurückkommen würden“, sagte sie. Aber Geld allein und Versprechungen seien nicht die alleinige Lösung. „Wir reden erst seit ein paar Jahren über bessere Arbeitsbedingungen“, sagte sie. Es fehlten aber noch harte Fakten, etwa dazu, was die Personaluntergrenzen tatsächlich an Entlastung bringen würden. Wissenschaftliche Auswertungen fehlten noch. „Nur erzählen, dass alles besser wird, reicht nicht, wir brauchen Studiendaten, um unsere Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen“, forderte Fajardo. Und dann fügte sie noch eine düstere Prognose hinzu: „Wir verlieren aufgrund unserer fehlenden Glaubwürdigkeit auch weiter Kollegen“, sagte sie. „An diesem Punkt sind wir gerade.“
Mehr in den ambulanten Sektor verlagern
Nach offiziellen Schätzungen wird es 2030 in Deutschland 20 Prozent weniger Pflegekräfte geben. Auf der anderen Seite wächst die Zahl der Pflegebedürftigen um 20 Prozent. Aus Sicht von Dr. Jürgen Malzahn, Abteilungsleiter Stationäre Versorgung beim AOK Bundesverband, gibt es dafür nicht die eine schnelle Lösung. Jedoch könnte eine Reihe von Maßnahmen ergriffen werden, etwa die Verlagerung bestimmter Versorgungsleistungen in Schwerpunktzentren oder die Ambulantisierung von Klinikleistungen. „Das kann man schnell umsetzen, die rechtlichen Grundlagen haben wir“, sagte Malzahn.
Für Letzteres spricht, dass in anderen EU-Staaten viel mehr Behandlungen ambulant erfolgen. Deutschland hat hingegen die meisten Krankenhausbetten. Damit gibt es zwar hierzulande auch mehr Pflegekräfte pro Kopf als anderswo, aber nicht genug pro Bett. Das Problem sei, dass in Deutschland zu viel stationär behandelt werde, befand Johannes Danckert und schloss sich dem Experten von der AOK an: „Wir müssen etwas an den Versorgungsstrukturen ändern.“
Mindestmengen verfehlen Ziel
Versuche, etwa mit Mindestmengen Patienten in Schwerpunktkliniken zu steuern, greifen indes nicht. Nach einer Studie des Bundeskartellamts machen Knie-Endoprothesen den größten Anteil an regulierten Leistungen aus, dennoch bieten drei Viertel der befragten Krankenhäuser die Knieoperation an. „Die Wirkung der Regulierung scheint also sehr begrenzt zu sein“, kommentierte Annette Bangard Vorsitzende der 3. Beschlussabteilung des Bundeskartellamtes das Studienergebnis. Dazu unterliege nur ein kleiner Teil der Krankenhausleistungen der Mindestmengenregelung, nämlich noch nicht einmal zwei Prozent.
Mindestmengen seien auch kein Instrument zur Krankenhausbereinigung, „sondern haben etwas mit Qualität zu tun“, entgegnete Karin Maag, Unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Eine schnelle Mindestmengenausweitung sei schwierig. „Das Ganze muss wissenschaftlich erarbeitet werden, das dauert seine Zeit.“
Digitalisierung des Gesundheitswesens birgt enorme Potenziale
Während der Strukturwandel nicht richtig in die Gänge kommt, steht das Gesundheitssystem mehr denn je unter Stress. Nach Auskunft von Dr. Anke Diehl liegen auch am Universitätsklinikum Essen inzwischen die Nerven blank. Einen positiven Aspekt habe die Pandemie dennoch gebracht. „Einen Schub für die Digitalisierung.“ Die Technik sei da, sagte die Leiterin Stabsstelle Digitale Transformation, nun müssten auch alle Akteure mitgenommen werden – vom Physiotherapeuten über die Krankenschwester bis zum Oberarzt. Einen Widerstand in der Ärzteschaft sieht sie nicht, sehr wohl aber Versäumnisse in der Aufklärung der Patienten. Den Versicherten müsse erklärt werden, welche Vorteile die elektronische Patientenakte habe, meinte Diehl. Real-World-Daten könnten Wissenschaft, Versorgung und Prävention enorm weiterbringen, wenn man sie denn zusammenführe. „In der digitalen Transformation steckt so viel Potenzial. Das müssen wir jetzt nutzen.“
Mit dem Digitalpakt Gesundheit hat der Bund die Weichen dafür gestellt. Drei Milliarden Euro stehen den Kliniken bis 2023 zur Verfügung, um in Digitalisierung und IT-Sicherheit zu investieren. Der Wermutstropfen: Etwa zehn Prozent der Investitionssumme gehen anschließend für Wartung und Instandhaltung drauf – Kosten, die die Kliniken schwer belasten werden.
Letzter Ausweg Impfen
Dass Deutschland durch mehr Digitalisierung besser durch die Krise gekommen wäre, ist verschüttete Milch. Aktuell geht es darum, mehr Menschen zu impfen. Dr. Martin Fensch, Geschäftsführer von Pfizer Deutschland, glaubt, dass da durchaus noch etwas machbar ist. Zwei Drittel der 30 Prozent noch nicht Geimpfter seien skeptisch, aber keine Impfgegner. „Mit einer unaufgeregten und sachlichen Kommunikation, verständlichen Argumenten und barrierefreien Impfangeboten, können wir ganz sicher noch die Trittzahl erhöhen.“ Einen Impftermin übers Internet zu buchen, sei für viele zu umständlich, konkretisierte Fensch. „Aber die Impfstelle bei Ikea findet jeder.“ Er plädierte auch dafür, Apotheken einzubinden, „die wollen und die können das.“
Angesichts der dramatischen Lage in den Krankenhäusern sprachen sich Pflegerat-Vize-Präsidentin Fajardo und Vivantes-Geschäftsführer Danckert für eine allgemeine Impfpflicht aus. Die würde vielleicht sogar die Akzeptanz erhöhen und auf jeden Fall das Gesundheitssystem entlasten. Nicht immer alles zerreden, hieß es, „sondern einfach mal machen.“