„Aducanumab ist das Fortschrittlichste, was die Alzheimer-Therapie momentan zu bieten hat“

Prof. Johannes Levin vom LMU Klinikum München sieht die Alzheimer-Therapie an einem Wendepunkt Foto: DZNE/Frommann – Foto: DZNE/Frommann
Herr Professor Levin, Sie haben auf die US-Zulassung von Aducanumab am 7. Juni mit deutlicher Kritik reagiert – und Sie waren bei Weitem nicht der einzige. Was stört Sie an dem neuen Alzheimer-Medikament?
Levin: Meine Kritik bezog sich auf die initial breite Zulassung der FDA, die praktisch keine Ausschlusskriterien vorsah. Aber das ist inzwischen vom Tisch. Im Juli hat die amerikanische Zulassungsbehörde die Indikation geändert und auf Alzheimer-Patienten in frühen Krankheitsstadien und mit nur leichten kognitiven Störungen eingeschränkt. Das entspricht der Population, die in den Studien untersucht worden war, und ist insofern ein richtiger und wichtiger Schritt gewesen.
Umstritten waren aber auch die Umstände der Zulassung. Erst wurden diebeiden Phase-III-Studien EMERGE und ENGAGE mangels Aussicht auf Erfolg abgebrochen. Ein halbes Jahr später gab es plötzlich doch Hinweise auf eine Wirksamkeit. Dann folgte ein Hin und Her, bis sich die FDA im Juni schließlich für die beschleunigte Notfallzulassung entschied. Hat das nicht einen Beigeschmack?
Levin: Aducanumab hat in der Tat eine wechselhafte Vorgeschichte. Es ist so, dass eine Zwischenauswertung der Daten im März 2019 keine klinische Wirksamkeit nahelegte, weshalb sich der Hersteller Biogen für den Abbruch der Studien entschied. Doch zu diesem Zeitpunkt lagen die Daten von den Patienten noch nicht vollständig vor, insbesondere Daten von einem Zeitraum, in dem Patienten nach einer Dosiserhöhung weiter behandelt wurden. Erst eine weitere Auswertung im Oktober 2019 ergab dann, dass Aducanumab in der höchsten Dosierung den kognitiven Abbau um 22 Prozent gegenüber Placebo verlangsamen kann, wobei dieses Ergebnis nur in der EMERGE Studie beobachtet wurde. In beiden Studien wurde jedoch eine sehr deutliche Abnahme der Amyloid-Plaques im Gehirn beobachtet.
Die Reduktion der Plaques war ausschlaggebend für die Notfallzulassung und ist sicherlich ein Meilenstein. Viele Ihrer Kollegen vermissen aber den klinischen Wirksamkeitsnachweis und finden die Ergebnisse ernüchternd. Sie auch?
Levin: Ich finde, man muss das differenziert betrachten. Der beschleunigte Zulassungsweg ist ja gedacht für Arzneimittel gegen schwere Krankheiten, von denen erwartet wird, dass sie einen bedeutsamen Vorteil gegenüber den verfügbaren Therapien besitzen. Eine Restunsicherheit hinsichtlich des endgültigen klinischen Nutzens wird dabei in Kauf genommen. Biogen ist jetzt aufgefordert, weitere Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit durch eine klinische Phase-IV-Studie nachzuliefern; davon hat die FDA die Zulassung ausdrücklich abhängig gemacht.
Das heißt, den klinischen Nutzen sehen Sie momentan auch noch nicht?
Levin: Sagen wir es so: Aducanumab ist nicht der erhoffte Durchbruch in der Alzheimer-Therapie. Der Antikörper wirkt nur bei leichter kognitiver Beeinträchtigung in der sehr frühen Phase der Erkrankung, indem er den Abbauprozess verlangsamt. Gestoppt werden kann die aggressive Erkrankung damit leider nicht. Aber: Es ist das Fortschrittlichste, was die Alzheimer-Therapie momentan zu bieten hat. Wenn wir bei den Betroffenen von einer durchschnittlichen Überlebenszeit von acht bis zehn Jahren ausgehen, würde eine Verlangsamung von 22 Prozent etwa zwei Jahre Lebenszeitgewinn bedeuten. Keine andere Therapie hat je zuvor vergleichbare Ergebnisse erzielt. Der Beweis für diesen klinischen Effekt muss jedoch formal noch erbracht werden.
Dann müsste doch jetzt auch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA der FDA folgen, oder nicht?
Levin: Das ist noch vollkommen ungewiss. Unter der höchsten Dosis wurden doch beträchtliche Nebenwirkungen beobachtet. In den Studien traten bei 35 Prozent der Patienten sogenannte Amyloid-bedingte Schädigungen – kurz ARIA – auf. Dabei handelt es sich um vorübergehende Schwellungen oder Mikroblutungen im Gehirn, die auf den Bildern zum Teil dramatisch aussehen. Klinisch machen diese ARIAs oft zwar kaum Symptome, aber sie sind ein ernstzunehmendes Sicherheitssignal. Außerdem traten häufig kognitive Probleme wie etwa Verwirrtheit auf, die man gerade bei diesen vulnerablen Patienten nicht haben möchte. Die EMA wird sich jetzt sehr genau ansehen, ob man bei einem begrenzten und letztlich nicht vollständig sicheren klinischen Nutzen das Risiko potenziell schwerwiegender Nebenwirkungen in Kauf nehmen will.
Würden Sie das Mittel Ihren Patienten verschreiben, wenn es in Deutschland zugelassen wird?
Levin: Selbstverständlich. Allerdings natürlich unter sehr genauer Berücksichtigung der Population (sehr frühes Stadium) und der dafür spezifischen Datenlage. Eine weitere Erforschung und perspektivisch auch eine Zulassung würde ich mir besonders für Patienten mit Down-Syndrom und einer familiären Form der Alzheimer-Krankheit wünschen, weil beide Gruppen im Laufe ihres Lebens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an Alzheimer erkranken.
Die meisten Menschen haben aber kein vorhersagbares Risiko. Wie kann denn sichergestellt werden, dass Hunderttausende Menschen so früh wasserdicht diagnostiziert werden, damit eine Chance auf Wirkung besteht?
Levin: Genau das ist ein bislang ungelöstes Problem, das wir hier in München zusammen mit anderen Kliniken bereits intensiv diskutieren. Hinzukommt, dass die Jahrestherapie mit zwölf Infusionen ungefähr 56.000 Dollar kostet. Es wird höchste Zeit, dass sich unsere Gesundheitspolitiker einmal Gedanken machen, wie der Zugang zu dem Medikament sichergestellt werden soll.
Zumal sich schon drei weitere vergleichbare Antikörper in Zulassungsstudien befinden…
Levin: Richtig. Und das sollte uns trotz aller Bedenken vor Augen führen: Zum ersten Mal gibt es Wirkstoffe, die bei den grundlegenden Mechanismen der Erkrankung ansetzen, in diesem Fall bei den Amyloid-Beta-Proteinen. Die Erfinder von Aducanumab – zwei Schweizer – hatten sich den Antikörper bei gesunden Hochaltrigen sozusagen abgeguckt und schließlich den Nachbau aus dem Labor mit dem Biotechunternehmen Biogen in die klinische Erprobung gebracht. In die Entwicklung floss also ein umfassendes molekulares Krankheitsverständnis ein. Das ist der große Unterschied zu bisherigen Alzheimer-Medikamenten. Wir ernten jetzt die Früchte aus mindestens zwei Jahrzehnten herausragender Grundlagenforschung, wobei Amyloid-Antikörper erst der Anfang sind.
Welche Früchte hängen noch am Baum?
Levin: Es gibt etliche weitere schlaue Ansätze, die potenziell noch vielversprechender sind, etwa kleine Moleküle gegen das meiner Meinung nach noch wichtigere Tau-Protein oder gegen das alpha-Synuclein-Protein. Auch Gentherapien, die die Herstellung von Eiweißen herunterfahren, die zu den pathologischen Ablagerungen führen, sind schon recht weit fortgeschritten. Von all den Ansätzen werden einige in der Lage sein, auch in spätere Phasen der Erkrankung einzugreifen. Das wäre ein gewaltiger Fortschritt.
Meinen Sie, Alzheimer wird einmal heilbar sein?
Levin: Wir erleben gerade einen Wendepunkt in der Alzheimer-Therapie, auf den die Menschheit seit Alois Alzheimer gewartet hat. Deswegen bin ich ziemlich zuversichtlich, dass sich der neurodegenerative Prozess in absehbarer Zeit stoppen lässt. Allerdings werden es eher Therapiekombinationen sein als ein einzelner Wirkstoff.
Prof. Dr. med. Johannes Levin ist Neurologe am LMU Klinikum München und stellvertretender Leiter der klinischen Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Standort München.