Wieso gehen viele krank zur Arbeit?

Falsch verstandene Tapferkeit: Wer krank ins Büro geht, lässt vielleicht seine Kollegen nicht hängen - aber er kann sie anstecken. – Foto: AdobeStock/Antonioguillem
Leichte Erkältungssymptome – für viele Menschen ist das kein Grund, sich krank zu melden und das ist auch noch nachvollziehbar. Manche schleppen sich allerdings auch bei einer fieberhaften Erkrankung zum Beispiel zur Arbeit. Dann riskieren sie mit ihrem Pflichtbewusstsein aber, Kollegen anzustecken. Was sind Motive dafür, zur Arbeit zu gehen – obwohl gesundheitliche Einschränkungen eine Krankmeldung rechtfertigen würden?
Präsentismus – zwanghafte Anwesenheit am Arbeitsplatz
Das Verhalten von Arbeitnehmern, trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erscheinen, wird von in der Arbeitswissenschaft als „Präsentismus“ bezeichnet, als „Anwesenheitszwang“. „Die Gründe für Präsentismus können sehr vielfältig sein“, sagt Stefan Röpke, Ärztlicher Direktor bei der psychotherapeutischen Fachklinikgruppe Oberberg Berlin-Brandenburg. „Es gibt Menschen, die trotz Krankheit zur Arbeit gehen, weil sie einfach Spaß an ihrem Beruf haben und gern ihre Energie in die Arbeit stecken. Aber auch Ängste, Pflichtgefühl oder ein mangelndes Selbstwertgefühl können Gründe für eine Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz Krankheit sein."
Wenn Arbeit Suchtqualität hat
Wenn die Balance Familie-Interessen-Beruf nicht im Gleichgewicht ist, kann Präsentismus unter Gesundheitsaspekten problematisch werden – weil er Suchtcharakter annehmen kann. „Menschen, die ihr Selbstwertgefühl praktisch ausschließlich über Leistung definieren, sind oftmals regelrecht abhängig vom Job. Für sie gilt 'ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste'. Eine solche Einstellung kann den Hang zu Präsentismus fördern", sagt Stefan Röpke, der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist.
Krank zur Arbeit: Auch soziale Ängste oder Perfektionismus können Ursachen sein
Auch eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur oder soziale Ängste können Präsentismus begünstigen. Menschen, die Aufgaben zwanghaft übergenau erledigen, haben einen sehr hohen Anspruch, und es fällt ihnen häufig schwer, loszulassen. Liegen soziale Ängste vor, machen sich die Betroffenen große Sorgen, was andere von ihnen denken könnten, und trauen sich möglicherweise nicht, sich krank zu melden. Bei Menschen, die ein Trauma erlebt haben, kann Präsentismus auch als Vermeidungsstrategie genutzt werden: Der Job sorgt dann für Ablenkung und man muss sich nicht mit sich selbst und dem Erlebten auseinandersetzen.
Welche Folgen hat Präsentismus?
Wer trotz offensichtlicher Erkrankung in die Arbeit geht …
- gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere,
- kann Kollegen anstecken – dann sind noch mehr Leute krank.
- Eine krankheitsbedingt verminderte Leistungsfähigkeit kann zu mehr Fehlern führen.
- Die Unfallgefahr kann steigen.
Bei Depressionen kann Arbeiten sogar genesungsfördernd sein
Zudem kann sich Präsentismus negativ auf die Erholung von der Krankheit auswirken. „Betroffene brauchen länger, um sich zu erholen und ihre volle Leistungsfähigkeit wieder zu erlangen“, sagt Psychotherapeut Röpke. Ob und wie stark Präsentismus die Regeneration beeinflusst, hängt von der Schwere und Art der zugrunde liegenden Erkrankung ab. Bei einigen Erkrankungen, wie einer leichten Depression, dürfen Betroffene arbeiten, da sich das positiv auf die Genesung auswirken kann. Bei fieberhaften Erkrankungen allerdings verschlimmert sich die Krankheit oder kann sogar chronisch werden, wenn sich die betroffene Person keine Ruhe gönnt.
Anwesenheitszwang kann in Burnout und Arbeitsunfähigkeit enden
Auch eine dauerhafte Einschränkung der Leistung bis hin zur Arbeitsunfähigkeit sind mögliche Folgen. Dies kann eintreten, wenn Mitarbeiter in einen Teufelskreis geraten. Stehen sie stark unter Druck, zum Beispiel aufgrund von Existenzangst, erscheinen sie krank zur Arbeit und erbringen dadurch unter Umständen eine deutlich schlechtere Leistung. Das verstärkt das Ausgangsproblem, Betroffene haben das Gefühl mehr arbeiten zu müssen, um den Anforderungen gerecht zu werden, was die Krankheit weiter verschlimmern kann. Diese andauernde Belastung kann zu einem Burnout oder anderen schwerwiegenden psychischen Erkrankungen führen, die es den betroffenen Personen nicht mehr ermöglichen, zu arbeiten. Zumindest fallen sie meist über einen längeren Zeitraum aus.
Präsentismus verhindern: Was Arbeitgeber tun können
„Beim Kampf gegen Präsentismus ist auch der Arbeitgeber gefragt, schließlich sollte diesem die langfristige Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wichtig sein“, heißt es in einer Mitteilung der Klinikgruppe Oberberg. „Nur wer gesund ist, ist auch leistungsfähig. Zudem verursachen Personalausfälle hohe Kosten, die vermieden werden können.“ Unternehmen müssten gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen schaffen. Dabei sollte das Arbeitspensum realistisch sein, und die Arbeit sollte im Krankheitsfall nicht liegen bleiben, da sich Mitarbeitende sonst vielleicht nicht trauen, sich krank zu melden. Facharzt Röpke sagt: „Eine offene und von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Unternehmenskultur ist eine gute Voraussetzung, damit sich Mitarbeitende krankmelden. Feedbackgespräche können helfen, Betroffene dazu zu bewegen, bei Krankheit nicht am Arbeitsplatz zu erscheinen."
Einen positiven Effekt hat es auch, wenn Unternehmen in die Zeit nach Feierabend investieren, zum Beispiel in vergünstigte Sportangebote. Sind Mitarbeitende nach der Arbeit sportlich aktiv, fällt es leichter, einen Schlussstrich unter den Arbeitstag zu ziehen und loszulassen. Auch Ernährungsberatung, Lärmschutz, abwechslungsreiche Arbeitsstrukturen und flexible Arbeitszeiten sind wichtige Faktoren, die die Gesundheit der Mitarbeitenden positiv beeinflussen können.
Betroffene: Keine Scheu haben, sich therapeutische Hilfe zu holen
Stellen Betroffene selbst fest, dass sie sich dauerhaft unter Druck setzen und sich diesem nicht gewachsen fühlen, ist es ratsam, sich bei einem psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten professionelle Hilfe zu holen. Auch wenn Präsentismus ein Symptom und keine psychische Erkrankung ist, so können doch psychische Erkrankungen die Folge sein. In einer Gesprächs- oder Verhaltenstherapie können die betroffenen Personen lernen, dass sie mit einer Krankheit nicht zur Arbeit gehen müssen.