„Vorhofflimmern wird als Risikofaktor für Schlaganfälle immer noch unterschätzt”

Das aktuelle Weißbuch „Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern“ hat die Versorgung von Menschen mit Vorhofflimmern untersucht. Wo gibt es Verbesserungsbedarf, Herr Bleß?
Bleß: Unsere Analysen im Weißbuch zeigen, dass Vorhofflimmern zu selten oder zu spät erkannt und häufig nicht angemessen behandelt wird. Bis zu 43 Prozent der Patienten sind nicht oder nicht ausreichend mit präventiven Medikamenten versorgt.
Woran liegt das?
Bleß: Vorhofflimmern wird als Risikofaktor für Schlaganfälle immer noch unterschätzt. Viele Patienten lehnen eine Therapie mit Gerinnungshemmern ab oder nehmen die verschriebenen Medikamente nicht ein, weil sie mehr Angst vor Nebenwirkungen als vor Schlaganfällen haben. Dabei überwiegt in vielen Fällen der Nutzen einer Schlaganfallprävention. Auch Ärzte sind mitunter verunsichert, das Schlaganfallrisiko mit dem Blutungsrisiko abzuwägen und den Zeitpunkt festzulegen, ab welchem eine medikamentöse Therapie eingeleitet wird. Diese Abwägung ist nicht einfach, denn es müssen viele individuelle Faktoren wie das Alter oder Begleiterkrankungen berücksichtigt werden.
Müssten die Patienten hier besser aufgeklärt werden?
Bleß: Unbedingt. Patienten sollten von ihrem Arzt sachlich und verständlich über die Risiken des Vorhofflimmerns und den Nutzen einer Behandlung aufgeklärt werden. Es muss ihnen klar werden, dass Vorhofflimmern ein fünffach erhöhtes Schlaganfall-Risiko bedeutet. Diese Rolle kommt in der Regel dem Hausarzt zu. Gut wäre auch, wenn gezielte Betreuungsangebote wie beispielsweise ein Arzneimittelcoach dafür sorgen würden, dass Patienten ihre Medikamente so wie verordnet einnehmen, aber auch mögliche Risiken zeitnah erkannt werden und die Therapie entsprechend angepasst werden kann.
Meinen Sie mit solchen Maßnahmen ließ sich ein Teil der jährlich 270.000 Schlaganfälle verhindern?
Bleß: Eine Studie hat gezeigt, dass in Deutschland jährlich rund 9.400 Schlaganfälle vermieden werden könnten. Einmal durch eine bessere medikamentöse Prophylaxe, aber auch durch eine konsequentere Früherkennung.
Sie meinen die Früherkennung von Vorhofflimmern?
Bleß: Vorhofflimmern zählt mit rund 1,8 Millionen Betroffenen zu den häufigsten Herzrhythmusstörungen im Erwachsenenalter und verursacht bis zu 20 Prozent aller Schlaganfälle. Allerdings wissen viele nicht, dass sie daran erkrankt sind. Das liegt unter anderem daran, dass der Patient häufig keine Symptome verspürt. Wer sich jedoch hin und wieder den Puls misst und ihn dazu vom Arzt kontrollieren lässt, kann mithelfen, die Erkrankung zu entdecken. Ärzte sollten dies insbesondere bei Menschen ab 65 im Blick haben.
Wie erkennt man denn Vorhofflimmern am Puls?
Bleß: Unter Umständen kann ein unregelmäßiger Puls getastet werden. Das Herz bzw. der Puls schlägt unregelmäßig. Bei so einem Befund ist ein EKG angezeigt, um die Diagnose zu überprüfen.
Und was hat Vorhofflimmern mit einem Schlaganfall zu tun?
Bleß: Bei Vorhofflimmern schlagen die Vorhöfe des Herzens mit sehr viel höherer Frequenz als normal und können sich nicht mehr effektiv zusammenziehen. Das hat zur Folge, dass der Bluttransport gestört wird und es zur Bildung von Blutgerinnseln im Herzen kommen kann. Wenn sich nun so ein Blutpfropfen löst und ins Gehirn gelangt, droht ein kompletter Gefäßverschluss. Wir sprechen deshalb von einem ischämischen Schlaganfall. Eine medikamentöse Prophylaxe mit Blutgerinnungshemmern soll genau das verhindern.
Stimmt es, dass Schlaganfälle in Folge von Vorhofflimmern oft besonders schwer verlaufen?
Bleß: Einige Untersuchungen zeigen das. Sie enden häufiger tödlich oder führen häufiger zu Bettlägerigkeit im Vergleich zu ischämischen Schlaganfällen anderer Ursache. Dies ist ein weiterer Grund, alles zu tun, damit Vorhofflimmern frühzeitig erkannt und adäquat behandelt wird.
Vorhofflimmern ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Risikofaktor für einen Schlaganfall. Was können betroffene Patienten noch tun?
Bleß: Patienten sollten einen gesunden Lebensstil einhalten und zusätzliche Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Zucker- und Fettstoffwechselstörungen behandeln lassen. Mit diesen Maßnahmen kann jeder einen Beitrag zur persönlichen Schlaganfallprävention leisten. Wenn man sich die Folgen des Schlaganfalls anschaut – ein Drittel stirbt im ersten Jahr nach dem Vorfall, die anderen leben häufig mit einer dauerhaften Behinderung – wird deutlich, wie wichtig die Prävention ist.
Hans-Holger Bleß ist einer der Autoren des Weißbuchs „Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern“ und leitet am IGES Institut Berlin den Bereich Versorgungsforschung.