Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt
Logo Gesundheitsstadt Berlin
Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt

Und vergiss mir die Seele nicht

Sonntag, 1. Mai 2011 – Autor:
Prof. Dr. med. Andreas Michalsen, Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin-Wannsee, über die heilende Wirkung der Mind-Body-Medizin, erstaunliche Forschungsergebnisse und den Imagewandel der Naturheilkunde.

Herr Prof. Michalsen, Sie sind Internist und haben eine Professur für Klinische Naturheilkunde an der Charitè. Schulmedizin und Naturheilkunde, wie geht das zusammen?

Michalsen:
Sehr gut. Die Naturheilkunde ergänzt die Schulmedizin mit sagen wir Quellen, Verfahren oder Reizen aus der Natur, die die körpereigenen Selbstheilungskräfte mobilisieren. Naturheilkunde soll die Schulmedizin unterstützen - nicht ersetzen. Deshalb sprechen wir auch von integrativer Medizin oder Komplementärmedizin.

Ein Schwerpunkt Ihrer Klinik ist die so genannte Mind-Body-Medizin. Was ist damit gemeint?

Michalsen:
Pfarrer Kneipp hat den schönen Satz gesagt: " Und vergiss mir die Seele nicht". Damit hat er ein Konzept gemeint, das er "Ordnungstherapie" nannte; die Amerikaner nennen es Mind-Body-Medizin. Dieser Ansatz nutzt die Möglichkeiten des Zusammenspiels von Körper, Geist und Seele. Durch Entspannungstechniken, Meditation, Qigong, Yoga, Kneippsche Anwendungen und vieles mehr können tatsächlich die Selbstheilungskräfte gefördert und Krankheitssymptome gelindert werden.

Trifft das auf alle Phasen der Behandlung zu oder gibt es Situationen, wo Naturheilverfahren kontraindiziert sind?

Michalsen:
Bei akutem Handlungsbedarf wie in der Notfallmedizin oder bei einem Herzinfarkt ist für Naturheilverfahren kein Platz. Auch Krebspatienten werden wir zunächst mit allen konventionellen Methoden behandeln, die erforderlich sind. Erst anschliessend kommt die Komplementärmedizin ins Spiel. Durch diese Kombination können wir die Therapieerfolge aber erheblich steigern.

Erzählen Sie ...

Michalsen:
Nehmen Sie einen Rheumapatienten, der täglich teure, nebenwirkungsreiche Antirheumatika einnimmt und trotzdem nicht beschwerdefrei ist. Oder den Bluthochdruckpatienten, der alle verfügbaren Antihypertensiva bekommt, aber aufgrund seines Lebensstils therapieresistent ist. Diesen Patienten können wir zum Beispiel durch Heilfasten oder Akupunktur helfen, die Beschwerden zu lindern und im Idealfall die Medikamentendosis zu halbieren.

Arzneimitteldosis halbieren - da dürften die Krankenkassen hellhörig werden...

Michalsen:
Die Krankenkassen gehören zu unserer grossen Fangemeinde. Erstens kosten Naturheilverfahren im Vergleich zur Hochleistungsmedizin relativ wenig, bringen aber ähnlich grosse Therapieerfolge. Weil oftmals andere Therapien reduziert oder sogar überflüssig werden, können die Kassen potentiell bares Geld sparen. Und zweitens können die Kassen damit im Wettbewerb um die Patienten punkten. Zwei Drittel der Deutschen wollen auch mit Naturheilverfahren behandelt werden, das geht aus allen grossen Umfragen hervor.

Wenn das Interesse an den Naturheilverfahren so gross ist, wie erklären Sie sich dann, dass das Immanuel Krankenhaus in der Millionen-Metropole Berlin die einzige Klinik mit stationärem Angebot ist?

Michalsen:
Ich will niemandem zu nahe treten. Aber welches Interesse sollte eine Klinik daran haben, so eine Station einzurichten? Die Fallpauschalen sind eher niedrig. Mit anderen Abteilungen lässt sich mehr Geld verdienen. Der Fehler liegt aber nicht an den Kliniken, sondern im System.

Sie sprachen von überzeugenden Therapieerfolgen, sind die Verfahren denn evidenzbasiert?

Michalsen:
Natürlich ist nicht jede Therapiemassnahme klinisch erforscht. Aber ich kann sagen, dass etwa 50 Prozent der Therapien, die wir hier im Krankenhaus anbieten, in Studien evaluiert wurden. Das ist mehr als in der Schulmedizin. Ob Sie's glauben oder nicht: Nur etwas über 30 Prozent aller schulmedizinischen Therapien sind evidenzbasiert.

Wieso hat die Naturheilkunde die Schulmedizin in Sachen klinische Studien überholt?

Michalsen:
Noch vor fünfzehn Jahren hatte die Naturheilkunde einen schweren Stand. Niemand hat uns richtig ernst genommen. Das hat das Interesse an klinischen Studien enorm vorangetrieben. In den USA fliessen jedes Jahr allein aus staatlicher Förderung 140 Millionen Dollar in die Forschung der Komplementärmedizin. Nicht zuletzt deshalb können wir heute auf fundierte Daten zurückgreifen - und die Akzeptanz ist enorm gestiegen.

Gibt es ernsthaft evidenzbasierte Daten zur Mind-Body-Medizin?

Michalsen:
Ja, die gibt es, und zwar aus den Bereichen der Psychoneuroimmunologie, Neurobiologie und Gesundheitspsychologie. Wenn jemand täglich beispielsweise 30 Minuten meditiert, dann können Sie unter dem Mikroskop sehen, wie die Killerzellen aktiver werden und Krebszellen in Schach halten. Auch an den Genen kann man die Wirkung der Mind-Body-Medizin beobachten. Dazu gibt es zwei sehr schöne Studien aus Harvard, die zeigen, wie durch Meditation gesundheitsfördernde Gene angeschaltet und Alterungsgene, die für den Zelltod verantwortlich sind, abgeschaltet werden.

Das sind ja prima Aussichten fürs Älterwerden...

Michalsen:
In der Tat hat die Naturheilkunde viel zu bieten und der demografische Wandel spielt uns zu. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass es in unserer Klinik um das Zusammenspiel geht. Wir sind ein schulmedizinisches Krankenhaus und bieten aus Überzeugung auch Naturheilverfahren an. Denn wir wissen, dass integrative Medizin mehr bringt als die Schulmedizin allein.

Hauptkategorien: Gesundheitspolitik , Medizin

Weitere Nachrichten zum Thema Komplementärmedizin

Aktuelle Nachrichten

Mehr zum Thema
Prof. Dr. Andreas Michalsen, Chefarzt am Immanuel Krankenhaus Berlin und Professor für Klinische Naturheilkunde an der Charité, über die Grenzen der Schulmedizin, den Wildwuchs in der Naturheilkunde und warum sich beide Disziplinen gerade näherkommen.
Weitere Nachrichten
Die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie machen Beschäftigten in Gesundheitsberufen besonders zu schaffen. Das zeigt eine Analyse der AOK-Nordost für Berlin. Eine Berufsgruppe ist sogar doppelt so oft betroffen wie der Durchschnitt der Versicherten.

Die Charité hat am Montag eine stadtweite Kampagne gestartet, um neue Mitarbeitende zu gewinnen. Besonders Pflegekräfte werden umworben, aber auch in Forschung, Lehre und Verwaltung sucht die Universitätsmedizin Verstärkung.

Trotz internationaler Transparenzregeln werden viele klinische Studien nicht veröffentlicht. Wichtige Ergebnisse bleiben somit verborgen. Dem setzt das Berlin Institute of Health (BIH) der Charité nun mit einem öffentlich einsehbaren Dashboard etwas entgegen.
Kliniken
Interviews
Einen ambulanten Pflegedienst in Berlin zu finden, ist schwierig geworden. Personalmangel ist das Hauptproblem. Dabei gäbe es relativ einfache Lösungen, sagt Thomas Meißner vom AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG). Im Gespräch mit Gesundheitsstadt Berlin verrät der Pflegeexperte und Chef eines häuslichen Krankenpflegedienstes, wie man Menschen in den Pflegeberuf locken könnte und warum seine Branche noch ganz andere Sorgen hat als die Personalfrage.

Affenpocken verlaufen in der Regel harmlos. Doch nicht immer. Dr. Hartmut Stocker, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am St. Joseph Krankenhaus in Berlin Tempelhof, über die häufigsten Komplikationen, die Schutzwirkung der Impfung und den Nutzen von Kondomen.

Zöliakie kann in jedem Lebensalter auftreten und ein buntes Bild an Beschwerden machen. Bislang ist das wirksamste Gegenmittel eine glutenfreie Ernährung. Gesundheitsstadt Berlin hat mit PD Dr. Michael Schumann über die Auslöser und Folgen der Autoimmunerkrankung gesprochen. Der Gastroenterologe von der Charité hat an der aktuellen S2K-Leitinie „Zöliakie“ mitgewirkt und weiß, wodurch sich die Zöliakie von anderen Glutenunverträglichkeiten unterscheidet.
Logo Gesundheitsstadt Berlin