„PAIN 2020”: Chronische Schmerzen im Frühstadium stoppen

Die Versorgung für Patienten mit chronischen Schmerzen wird als lückenhaft kritisiert. Dabei gilt: Je früher behandelt wird, desto geringer die Gefahr einer Chronifizierung. – Foto: ©merklicht.de - stock.adobe.com
Wenn man sich beim Sport den Fuß bricht, ist der Fall klar: Der Fuß tut heftig weh, weil der Körper Alarm schlägt, dass an einer Stelle etwas kaputt ist. Im Krankenhaus wird der Fuß gegipst – und mit fortschreitender Heilung verschwindet der Schmerz so selbstverständlich, wie er gekommen ist. Anders ist dies bei Patienten mit chronischen Schmerzen: Rücken oder Kopf tun weh, ohne dass die Ärzte organische Ursachen finden könnten. Trotzdem sind die Schmerzen real und können Betroffenen im Alltag das Leben schwer machen. Viele Patienten können wochen- oder gar monatelang arbeitsunfähig sein. Hier die richtige Behandlung zu finden, ist oft ein Stochern im Nebel. Denn chronische Schmerzen sind ein vielschichtiges Krankheitsbild, für das es eine so einfache, fallspezifische und daher erfolgversprechende Therapie wie einen Gips bisher nicht gibt.
„Patienten irren oft jahrelang durchs Gesundheitssystem"
„Patienten irren oft mehrere Jahre durchs Gesundheitssystem, bevor sie bei der für sie geeigneten Einrichtung landen“, kritisiert Thomas Isenberg, Geschäftsführer der Deutschen Schmerzgesellschaft, im Gespräch mit „Gesundheitsstadt Berlin". „Sie bekommen teilweise eine hochintensive medikamentöse Behandlung, haben aber trotzdem weiter Schmerzen.“
Reaktion auf „Unter- und Fehlversorgung“ bei Schmerzpatienten
Die Deutsche Schmerzgesellschaft (DGSS) und die Krankenkasse „Barmer“ haben deshalb ein Forschungs- und Behandlungsprojekt auf den Weg gebracht, das einer von ihnen kritisierten „Unter- und Fehlversorgung“ bei chronischen Schmerzen den Kampf ansagt – und deren Behandlung auf ein neues Qualitätsniveau heben will. Sein Name: PAIN 2020. Die Idee ist: Patienten schon am Anfang einer möglichen Chroniker-Karriere mit einem neuen, intensiven und zu ihnen passenden Behandlungskonzept versorgen. Das Ziel ist: eine Chronifizierung möglichst verhindern, den Patienten vermeidbares Leid ersparen – und dem Gesundheitssystem vermeidbare Kosten.
PAIN 2020 soll Versorgungslücke schließen
„Je früher eine umfassende Therapie bei gefährdeten Patienten beginnt, desto größer ist die Chance, chronischen Schmerzen zu vermeiden“, sagt Claudia Sommer, Schmerzforscherin an der Universität Würzburg und Präsidentin der DGSS. Genau an dieser Stelle wollen die Projektverantwortlichen Schmerzpatienten abholen. Und sie wollen die Erfolgswahrscheinlichkeiten für eine Gesundung erhöhen: durch ein neues, systematisches und ganzheitliches Behandlungskonzept speziell für solche Patienten. Diese frühzeitige, an den biopsychosozialen Bedarfen der Patienten orientierte Behandlung soll eine Lücke in der bestehenden Versorgung schließen.
Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten stellen gemeinsam Diagnose
Das Hauptelement dieser neuen Versorgungsform ist eine umfassende Untersuchung der Betroffenen in einem ausgewiesenen Fachzentrum für chronische Schmerzen. Das Besondere: Es untersucht nicht mehr ein Einzelarzt; vielmehr erfährt der Patient im Rahmen eines Assessments eine schmerztherapeutisch qualifizierte Diagnostik durch ein interdisziplinäres Team („Interdisziplinäres Multimodales Assessment“/IMA). Dieses Team setzt sich aus Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten zusammen, erstellt Diagnosen und legt Therapiepläne fest – gemeinsam.
Chronische Schmerzen: Warnsignal für permanente Überlastung
Dieser ganzheitliche Ansatz erkennt die Ursachenvielfalt des chronischen Schmerzes an: eine Kombination aus körperlichem, psychischem, sozialem und/oder beruflichem Stress, der an Muskeln, Sehnen oder im Bindegewebe eine Daueranspannung erzeugt. Chronischer Schmerz warnt nicht mehr vor einem akuten körperlichen Schaden – wie der Akutschmerz es tut: Er warnt vor einer länger dauernden oder wiederkehrenden Überlastung des gesamten Organismus und Menschen.
Neue ambulante Therapieangebote
Ein zweites Element des PAIN-2020-Ansatzes sind die ergänzend zur Regelversorgung möglichen ambulanten Therapieangebote. Erstens (für leichtere Fälle): eine einmalige Gruppenschulung mit Informationen zur Erkrankung und zu Methoden der Schmerzbewältigung. Zweitens (für schwerere Fälle): eine den Patienten über zehn Wochen begleitende multimodale Schmerzbehandlung in Form von Gruppentherapien. Bei hochkomplexen Fällen kann eine stationäre oder teilstationäre infrage kommen.
Die sieben häufigsten Schmerzdiagnosen:
(alle Schmerzdiagnosen bei Frauen und Männern zusammen = 100 Prozent)
- Rückenschmerzen: Frauen: 28,9 Prozent – Männer: 22,1 Prozent
- Bauch- und Beckenschmerzen: Frauen: 14,2 – Männer: 6,3
- Migräne: Frauen: 7,8 – Männer: 2,0
- Gelenkschmerzen: Frauen: 6,2 – Männer: 4,8
- Kopfschmerz: Frauen: 5,3 – Männer: 3,6
- Hals- und Brustschmerzen: Frauen: 3,1 – Männer: 2,8
- Muskelschmerzen: Frauen: 2,3 – Männer: 1,5
(Quelle: PAIN2020/DGSS)
Das Modellprojekt PAIN 2020 läuft insgesamt über drei Jahre und soll 6.000 Patienten mit chronischen Schmerzen offenstehen. Es wird mit sieben Millionen Euro vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gefördert, dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitssystem. Neun medizinische Einrichtungen mit besonderer Kompetenz in Schmerzversorgung sind aktuell schon als feste Anlaufstellen für Schmerzpatienten an dem Projekt beteiligt. Zu ihnen zählen die Unikliniken in Dresden, Jena, Göttingen und Würzburg und fünf weitere Zentren oder Kliniken. Bis zum Sommer soll sich die Zahl der bundesweit beteiligten Einrichtungen auf über 30 erhöhen.
Der bundesweite „Aktionstag gegen den Schmerz" wird jährlich am 4. Juni von der Deutschen Schmerzgesellschaft und ihren Partnerorganisationen veranstaltet.
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