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Natalizumab: PML-Risiko möglicherweise höher als gedacht

Donnerstag, 30. März 2017 – Autor: Anne Volkmann
Schon länger ist bekannt, dass das MS-Medikament Natalizumab (Tysabri) zur progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) führen kann. Nun haben Forscher festgestellt, dass das Risiko für die gefährliche Gehirnentzündung unter Natalizumab möglicherweise noch höher ist als bisher angenommen.
PML-Risiko unter Tysabri

Bei der Multiplen Sklerose ist die Übertragung zwischen den Nervenzellen gestört – Foto: ralwel - Fotolia

Der monoklonale Antikörper Natalizumab, bekannt unter dem Handelsnamen Tysabri, kann den Verlauf einer aggressiven Multiplen Sklerose (MS) in vielen Fällen beruhigen. Allerdings ist die Therapie nicht ohne Risiken, denn es kann zu einer gefährlichen Gehirnentzündung, der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML), kommen, deren Verlauf potenziell tödlich ist. Hervorgerufen wird die PML durch den JC-Virus, den viele Menschen, ohne es zu wissen, in sich tragen. Patienten, die eine Behandlung mit Natalizumab erhalten sollen, müssen daher vor und während der Therapie gründlich auf Risikofaktoren untersucht werden.

Zu den Hauptrisikofaktoren für eine PML gehören eine frühere Therapie mit Immunsuppressiva, Antikörper gegen das JC-Virus sowie eine Behandlungsdauer mit Natalizumab länger als 24 Monate. Nun haben das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) jedoch darauf hingewiesen, dass die bisher übliche Auswertung dieser Faktoren möglicherweise nicht ausreicht, um das Risiko für eine PML sicher zu bestimmen. Wissenschaftler der Universitätsklinik Münster und der Alabama University Birmingham hatten herausgefunden, dass es durch die bisherigen Methoden sogar zu substanziellen Fehleinschätzungen kommen kann.

Alte Zahlen und fehlerhafte Berechnung führen zur Fehleinschätzung

Zu der Fehleinschätzung kommt es nach Angaben der Autoren aus verschiedenen Gründen. Zum einen werden der Risikoberechnung immer noch die Zahlen aus einer im Jahr 2012 veröffentlichten Studie des Natalizumab-Herstellers zu Grunde gelegt. Demnach läge das Risiko für eine PML unter Natalizumab bei 2,13 Fällen pro tausend Patienten. Doch neuere Daten des Herstellers aus dem Jahr 2016 belegen eine fast doppelt so hohe PML-Inzidenz von 4,22 pro tausend Patienten. Hinzu kommt: Die Zahl von Patienten mit vorangegangener Immunsuppression in der Kontrollgruppe wurde 2012 wahrscheinlich zu hoch eingeschätzt. Die Zahl der immunsupprimierten Natalizumab-Patienten, die eine PML entwickelten, wurde dagegen korrekt ermittelt. „Dies legt nahe, dass das tatsächliche PML-Risiko für Patienten mit einer früheren Immunsuppression höher ist als angegeben“, so Professor Heinz Wiendl, Leiter der Münsteraner Arbeitsgruppe und stellvertretender KKNMS-Vorstandssprecher.

JCV-Status kein sicheres Kriterium

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich durch die Einbeziehung des JCV-Serostatus. Hinsichtlich des PML-Risikos weise er eine zu geringe Spezifität auf, denn nur etwa ein Prozent der JCV-positiven Patienten entwickeln tatsächlich eine PML, so die Studienautoren. Ebenfalls kritisch sehen die Forscher die strikte Risikobewertung auf Grundlage der Behandlungsdauer. Der praxisübliche Algorithmus führe zusätzlich dazu, dass das PML-Risiko unterschätzt werde, da er für Patienten, die 48 Monate lang mit Natalizumab behandelt werden, ein genauso hohes Risiko definiere wie für Patienten nach 25-monatiger Behandlung. „Dies ist jedoch aus zweierlei Hinsicht nicht richtig: Erstens steigt das statistische PML-Risiko mit jeder zusätzlichen Infusion sukzessive an. Zweitens wurden die Studiendaten 2012 nicht korrekt ausgelesen, weil Patienten, die die Therapie beispielsweise nur bis zum 26. Monat erhielten, so betrachtet wurden, als hätten sie diese über den gesamten beobachteten Zeitraum von 48 Monaten erhalten“, erklärt Studienleiter Professor Nicholas Schwab von der Neurologischen Klinik der Universität Münster. Das kumulative Risiko sei daher ausschlaggebend.

Ein weiteres Problem: Die derzeitigen Risikoberechnungen beziehen auch Kurzzeitpatienten ein. Diese haben jedoch generell ein geringeres PML-Risiko und verzerrten so die Statistik zugunsten einer insgesamt niedrigeren Risikobewertung. Für Patienten, die langfristig mit Natalizumab behandelt werden, sollte daher stets individuell das kumulative PML-Risiko ermittelt werden, so die Autoren. Regelmäßige und engmaschige Kontrollen von MS-Patienten während der Natalizumab-Therapie sind dabei nach wie vor unerlässlich. Professor Ralf Gold, Präsidiumsmitglied der DGN und Vorstandsvorsitzender des KKNMS, rät zudem zu besonderer Vorsicht, wenn bei regelmäßigen Kontrollen von JCV-Titern bei betroffenen MS-Patienten plötzlich deutliche Titeranstiege auftreten.

Foto: © ralwel - Fotolia.com

Hauptkategorie: Medizin
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