Frau Bringer, Sie sind Notfallpsychologin, können Sie zunächst erklären, was Angst überhaupt ist?
Gabriele Bringer: Angst ist biologisch betrachtet eine unwillkürliche Reaktion auf einen bedrohlichen Reiz, auf etwas, was unbekannt ist. Der Körper wird aktiviert, Stresshormone werden ausgeschüttet, damit man wegrennen oder angreifen kann, der Mensch gerät in eine hohe Erregung, die Sinne werden geschärft, man wird aufmerksamer.
Bei der Angst vor Terroranschlägen gibt es aber doch gar keine konkrete Situation, die einem Angst macht.
Bringer: Die Angst vor Terroranschlägen ist eher ein Bedrohungsgefühl. Gedanken spielen dabei eine große Rolle. Das Ausmalen von bestimmten Situationen kann ausreichen, um uns in Angstzustände zu bringen, ohne dass es in dem Moment eine reale Bedrohung gibt. Solch eine diffuse Angst macht biologisch keinen Sinn.
Die Angst vor Terroranschlägen könnte also eher schaden?
Bringer: Die Angst kann uns in einen problematischen Zustand bringen. Wenn die Angst chronisch wird, werden wir übervorsichtig und unsicher. Wir können eine Situation dann schlechter einschätzen. Nicht hilfreich ist es auch, wenn die Wut in Aggressionen umschlägt und ich beginne, jedem Fremden oder Unbekannten gegenüber mißtrauisch zu sein. Das stört das Vertrauen untereinander, und man bekommt noch mehr Angst. Und wenn Fremde sich ständig argwöhnisch beobachtet fühlen, fühlen auch sie sich nicht mehr sicher. Es kommt eine Mißtrauensschleife in Gang.
Ist Wut nicht ein gutes Gegenmittel gegen Angst?
Bringer: Ja. Die „aktive Wut“, die dazu führt, dass man sich beispielsweise Gedanken macht, was man tun könnte, um solche Terroranschläge künftig zu verhindern. Informationen sind gut zur Bewältigung der Angst. Wenn ich viele Informationen habe, kann ich rationaler mit einem Ereignis umgehen und besser verstehen, was passiert ist. Das gibt einem Sicherheit im eigenen Handeln.
Wenn ich nun trotzdem Angst habe, weil zum Beispiel jemand in die S-Bahn einsteigt, der mir merkwürdig vorkommt?
Bringer: Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass wir nirgendwo 100prozentig sicher sind. Wir fahren Auto, obwohl die Gefahr eines Unfalls besteht. Das ist eine ganz reale Bedrohung. Aber wenn ich in den Wagen steige und die ganze Zeit Angst vor einem Unfall habe, werde ich zu einem unsicheren Fahrer – das erhöht das Risiko für Unfälle. Das Vertrauen in die eigene Fahrsicherheit und das Vertrauen darauf, dass die anderen Autofahrer sich auch richtig verhalten werden, hilft, ohne Angst Auto zu fahren. Es kann auch helfen, die Angst zu relativieren und sich zu überlegen, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlages zu werden, letztlich recht gering ist. Das gilt natürlich nicht für Menschen, die in Kriegsgebieten leben.
Was kann ich noch tun, um die Angst zu lindern?
Bringer: Man kann sich zum Beispiel überlegen, was ich tue, wenn ein Anschlag passiert: Renne ich weg, rufe ich die Polizei, helfe ich den Opfern? Wenn ich das Gefühl habe, in solch einer Situation etwas tun zu können, gewinne ich Sicherheit. Das muss noch nicht einmal realistisch sein. Die Überzeugung reicht.
Der Politologe Herfried Münkler hat die „mürrische Indifferenz“ als Maßnahme gegen die Terror-Angst vorgeschlagen.
Bringer: Ich denke, es ist schwierig, sich vorzunehmen, gleichgültig zu sein. Man kann sich nicht einreden, dass einen etwas nicht beunruhigt. Besser ist, sich eingestehen, dass man Angst hat. Es kann helfen, mit anderen darüber zu reden oder sich damit auseinanderzusetzen.
Gibt es Menschen, die anfälliger für Angst sind?
Bringer: Anfälliger sind Menschen, die schon einmal ein traumatisches Erlebnis hatten. Das muss nichts mit direkter Gewalt zu tun haben, es geht um Hilflosigkeits-Situationen, das Gefühl, keine Kontrolle zu haben. Wenn man beispielsweise in einem Kaufhaus einen Schwindelanfall hat und sich nicht mehr orientieren kann. Das gilt aber auch für Menschen, die als Kind oft gescholten wurden und nie etwas selber ausprobieren durften, die das Gefühl haben, ihr Leben nicht selber in die Hand nehmen zu können, die in ihrem Job Angst haben, etwas falsch zu machen, die sich oft von anderen abhängig fühlen.
Kann sich Angst zu einer psychischen Erkrankung auswachsen?
Bringer: Ja. Angst kann sich verfestigen und verselbstständigen, sie ist dann nicht mehr an den Ursprungs-Auslöser gebunden, sondern wird auch von anderen Situationen oder Dingen ausgelöst. Das kann dann zu einer so genannten generalisierten Angststörung führen.
Es entsteht also eine Art "Angstgedächtnis" ähnlich wie das Schmerzgedächtnis?
Bringer: Ja. Genau das wollen wir mit unserer therapeutischen Arbeit vermeiden.
Kann Angst auch körperlich krank machen?
Bringer: Ja. Wenn ich latent Angst habe, bei unerwarteten Geräuschen leicht zusammenzucke, ständig übererregt bin, bedeutet das eine chronische Stress-Belastung. Darunter leidet der gesamte Stoffwechsel, das kann Ablagerungen in den Blutgefäßen und damit Herz- und Kreislauferkrankungen begünstigen, auch das Gehirn wird bei Stress unterversorgt.
Die Diplom-Psychologin und Notfallpsychologin Gabriele Bringer leitet die Stresszentrum Berlin GmbH. Mitarbeiter des Stresszentrums kümmern sich um Menschen, die schwere Unfälle erlitten, um Lokführer, die einen Selbstmörder überfuhren und um Einsatzkräfte, die in Krisen- oder Kriegsgebieten traumatische Situationen erlebten.
Foto: Gabriele Bringer