Forscherin Priesemann: Die Covid-19-Todesfälle werden zunehmen

Der Kipppunkt ist vielerorts erreicht: Modellrechnung sagt dynamischen Anstieg der Corona-Toten in Deutschland voraus – Foto: ©pirke - stock.adobe.com
Nach einem ruhigen Sommer steigen die Corona-Infektionen in Deutschland wieder exponentiell. Viele Gesundheitsämter kommen nicht mehr hinterher, die Kontaktpersonen nachzuverfolgen. Diese Situation ist gefährlich, weil sich so das Coronavirus unkontrolliert ausbreiten kann. „Der Kipppunkt ist vielerorts erreicht“, sagte Viola Priesemann am Sonntagabend bei Anne Will. Es gehe jetzt darum, die Infektionszahlen so zu drücken, dass eine Nachverfolgung wieder möglich sei. Die Forscherin vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation widersprach damit dem Arzt und Epidemiologen Stefan Willich von der Charité, der meinte, man müsse mit hohen Infektionszahlen leben.
Anstieg auf 800 Todesfälle pro Woche oder mehr
In einer Modellrechnung hatte Priesemann mit ihrer Gruppe errechnet, dass sich die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 in den ersten beiden Novemberwochen jeweils verdoppeln könnte. Denn: Seit Ende September breitet sich das Coronavirus Sars-CoV-2 verstärkt unter den über 60jährigen aus. „Das führt mit einem Zeitverzug von etwa zwei Wochen auch zu einem Anstieg der Todesfälle, der bereits jetzt klar zu beobachten ist", so die Forscherin.
Über den Sommer hatten sich vorwiegend jüngere angesteckt, was die immer noch relativ niedrigen Zahlen von Todesfällen erklärt. So starben in der Woche vom 21. bis 28. Oktober 335 Menschen an oder mit Covid-19, obwohl in dieser Woche 85.000 Neuinfektionen registriert wurden. In der Woche vom 13. bis 19. April starben dagegen 1.600 Menschen mit oder an Covid-19, während sich „nur“ 35.000 Menschen neu mit dem Coronavirus infizierten.
Diese Situation ist nun gekippt. „Unsere Modellrechnungen zeigen, dass die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 in Deutschland bereits Anfang November auf 500 bis 800 pro Woche zunehmen dürfte“, sagt Viola Priesemann. Möglicherweise falle der Anstieg sogar stärker aus.
Fallsterblichkeit liegt bei 82-jährigen bei 10 Prozent
Priesemanns Arbeitsgruppe hatte in der Modellrechnung den Anstieg der gemeldeten Neuinfektionen nach Altersgruppen analysiert und ermittelte aus der beobachteten Sterblichkeit in der jeweiligen Altersfraktion, wie sich die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 entwickelt. Nach einer umfangreichen Metastudie verzehnfacht sich die Sterblichkeitsrate bei einer Coronainfektion alle 20 Lebensjahre und erreicht um das 82. Lebensjahr rund 10 Prozent. Bei ihren Modellrechnungen nahmen die Forscher zudem an, dass die Entwicklung der Todesfälle den gemeldeten Neuinfektionen mit einem Verzug von 14 Tagen folgt. „Die Ergebnisse unserer Modellrechnungen stimmen sehr gut mit den beobachteten Entwicklungen in allen Altersgruppen überein“, sagt Viola Priesemann. „Deshalb dürften auch unsere Prognosen für die kommenden zwei Wochen zuverlässig sein.“
Situation ist gekippt
Ausschlaggebend für die Prognose ist, dass die Zahl der unerkannten Infizierten steigt und das Virus somit mehr ältere Menschen erreicht. „Damit haben wir in vielen Landkreisen einen Kipppunkt im Infektionsgeschehen überschritten, ab dem es schwierig wird, die Epidemie zu kontrollieren“, sagte Priesemann. Um die Kontrolle über das Infektionsgeschehen wiederzuerlangen, müssten die Fallzahlen unverzüglich gesenkt werden. Andernfalls drohten sehr viel restriktivere Maßnahmen – spätestens wenn die Krankenhauskapazität ausgeschöpft sei.
Die Ergebnisse der Modellrechnung hatten die Forscher am 28. Oktober im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.
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