„Es ist unfassbar“ – Experte kritisiert Stand der Sepsisbehandlung scharf

Kommt es zu einer Sepsis, ist schnelles Handeln erforderlich – Foto: ©thaiview - stock.adobe.com
In Deutschland sterben jedes Jahr über 70.000 Menschen an Sepsis. Damit ist sie die häufigste vermeidbare Todesursache. Doch immer noch wird wenig über das Thema gesprochen. Denn Sepsis hat keine Lobby, so die Kritik vieler Experten. Weder wurde der in den vergangenen Jahren oft geforderte Nationale Sepsisplan umgesetzt noch die Aufklärung in der Bevölkerung verbessert. Und auch in den Kliniken wird Sepsis oft immer noch zu spät behandelt.
„Es ist nichts passiert“, so das vernichtende Urteil von Prof. Dr. Konrad Reinhard, Vorsitzender der deutschen Sepsis-Stiftung. Dass immer noch so viele Menschen in Deutschland an der Erkrankung sterben, hält er für einen Skandal. „Wir müssen in der Infektionsbehandlung mit der Kardiologie und der Onkologie auf Augenhöhe kommen“, so die Forderung des Experten.
Sepsis häufig vermeidbar
Besonders tragisch ist die hohe Zahl der Todesfälle auch deshalb, weil viele davon vermeidbar sind. So würde es durch Impfungen bereits im Vorfeld zu vielen Infektionen, die eine Sepsis auslösen können, gar nicht erst kommen. Und auch wenn eine Sepsis aufgetreten ist, könnten die Patienten häufig noch gerettet werden. Das Problem: Viele Laien, aber auch Ärzte und Krankenhauspersonal erkennen die Symptome nicht. Bis heute wissen viele Menschen nicht einmal, was eine Sepsis überhaupt ist: eine Dysfunktion der Organe als Reaktion auf eine Infektion, die sich im Körper ausgebreitet hat.
Die Symptome sind eher unspezifisch: Der Patient ist müde, verwirrt, leidet unter Atemnot, der Puls rast, Fieber und Schüttelfrost treten auf, der Blutdruck sinkt. All das sind Symptome, die auch beispielsweise bei einer Grippe auftreten können. So ist es vor allem das Gesamtbild und der Krankheitsverlauf, die erfahrene Mediziner an eine Sepsis denken lassen.
Schnelle Antibiotikatherapie ist A & O bei Sepsis
Auslöser für eine Sepsis sind meistens Infektionen wie Lungenentzündung, Harnwegsinfektionen oder aber Verletzungen. Feststellen lässt sie sich durch bestimmte Laborwerte, wie zum Beispiel den Laktatwert. Daher ist es das Wichtigste, bei Verdacht sofort abzuklären, ob eine Sepsis vorliegen könnte. Bestätigt sich das, muss sofort eine hochdosierte Antibiotikatherapie erfolgen – möglichst innerhalb der ersten Stunde. Studien konnten zeigen, dass jede Verzögerung der Therapie die Mortalität stark erhöht.
Das sogenannte „bundle“ – bestimmte diagnostische und therapeutische Maßnahmen zur Diagnose und Behandlung der Sepsis – reduzieren die Sterblichkeit nachweislich. Doch immer noch werden diese klaren Empfehlungen in Deutschland zu wenig umgesetzt, kritisiert Reinhard. Insbesondere in den Notaufnahmen werde eine Sepsis selten erkannt. „Es ist unfassbar“, kritisiert Reinhard den Umgang mit der Erkrankung insgesamt.
Falsche finanzielle Anreize?
Dass eine konsequente Umsetzung von Maßnahmen die durch Sepsis bedingten Todesfälle reduzieren kann, zeigt der Vergleich mit anderen Ländern wie etwa Australien, Großbritannien oder den USA. Reinhard hält falsche finanzielle Anreize für eines der Hauptprobleme hierzulande. So leiste sich Deutschland immer noch besonders viele Intensivstationen, weil sie das meiste Geld einbrächten. Doch die Qualität der Behandlung werde dabei nicht berücksichtigt.
„Wir haben in Deutschland kein Ressourcen-, sondern ein Qualitäts- und Strukturproblem“, so Reinhard. Er fordert neue Qualitätsindikatoren durch die Politik, um die Situation zu verbessern. Wichtig seien zudem die Erstellung eines Nationalen Aktionsplans gegen Sepsis, eine bessere Aufklärung der Öffentlichkeit sowie die Etablierung von Patientenprotokollen.
Antibiotika: Spagat zwischen Über- und Unterversorgung
Während es bei der Sepsis vor allem um den rechtzeitigen Einsatz von Antibiotika geht, wird Ärzten sonst häufig vorgeworfen, zu schnell und zu viele Antibiotika zu geben – insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Antibiotika-Resistenzen. Wie schwierig es für Ärzte sein kann, das richtige Maß zwischen Über- und Unterversorgung zu finden, betonte auf dem Qualitätskongress Prof. Dr. Winfried Kern, Leiter der Infektiologie am Universitätsklinikum Freiburg.
Beim Gebrauch von Antibiotika dürfe es nicht nur um die Frage der Resistenzvermeidung gehen, sondern vor allem um die optimale und zielgerichtete Therapie, erklärte der Experte. Diese zu finden, sei oft gar nicht so einfach, da die Behandlungen meist so schnell wie möglich erfolgen müssen – oft, bevor die Laborergebnisse vorliegen.
So stelle sich häufig erst im Nachhinein heraus, welche Therapie die richtige gewesen wäre. Ärzte müssen sich daher auch auf ihre Erfahrung verlassen. Und auch ein Antibiogramm helfe nicht immer weiter – beispielsweise wenn ein darin entdeckter Keim gar nicht krankheitsbedeutsam war.
Weg zum optimalen Antibiotika-Einsatz noch weit
Um so schnell wie möglich die richtige Therapie herauszufinden, haben sich Kern zufolge sogenannte ABS-Teams (ABS = Antibiotic Stewardships) als sinnvoll erwiesen. Sind diese an Kliniken vorhanden, könne der Einsatz von Antibiotika zielgerichteter erfolgen und es seien bessere Ergebnisse zu erwarten.
Kern sieht in dieser Hinsicht durchaus Fortschritte an den Kliniken, räumt jedoch ein: "Es geht nur langsam voran." Am Ende waren sich die Vortragenden einig, dass es nicht um ein Ärzte-Bashing gehe. Man dürfe jedoch auch nicht aus den Augen verlieren, was noch zu tun sei. Denn offenbar ist der Weg zu einer optimalen Antibiotika-Versorgung in Deutschland noch weit.
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