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Autismus: Sind defekte Spiegelneurone schuld?

Donnerstag, 22. November 2018 – Autor: anvo
Seit einiger Zeit wird der Frage nachgegangen, welche Rolle Spiegelneurone bei der Entstehung von Autismus spielen. Vieles ist dabei noch unklar. Eine neue Studie hat nun offenbar bestätigt, dass die Funktion der Spiegelneurone bei Menschen mit Autismus zumindest zum Teil eingeschränkt ist.
Autismus, Spiegelneurone

Menschen mit Autismus haben oft Schwierigkeiten, Gesichtsausdrücke richtig zu interpretieren – Foto: ©Photographee.eu - stock.adobe.com

In den 90er Jahren entdeckte der italienische Gehirnforscher Giacomo Rizzolatti, dass im Gehirn von Affen bestimmte Neurone aktiviert wurden, wenn diese eine Mimik oder Handlung vollführten. Das Forscherteam um Rizzolatti fand heraus, dass dieselben Neurone aktiv waren, wenn der Affe die entsprechenden Handlungen bei anderen nur sah, ohne selbst etwas zu tun. Er nannte diese Neurone daher „Spiegelneurone“. Diese Spiegelzellen finden sich auch im menschlichen Gehirn und tragen auch hier dazu bei, nachvollziehen zu können, was andere Menschen tun und fühlen.

Schon länger wird der Theorie nachgegangen, dass eine Einschränkung der Funktion der Spiegelneurone zur Entwicklung von autistischen Störungen beitragen kann. Doch bisher sind Forschungen zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen. Neuere Studien zeigen, das Spiegelneurone durchaus an der Entstehung von Autismus beteiligt sein können, dass ihnen aber – je nach Unterform der autistischen Störung – eine unterschiedliche Rolle zukommt.

Spiegelneurone als Voraussetzung für soziale Interaktionen

Die Bedeutung von Spiegelneuronen bei Autismus hat auch Professor Ahmed A. Karim, Lehrbeauftragter der SRH Fernhochschule, zusammen mit einem internationalen Forscherteam aus Deutschland, Frankreich und Australien in einer aktuellen Studie untersucht. „Wenn wir jemanden sehen, der gähnt oder lächelt, werden in unserem Gehirn weitgehend die gleichen Neurone aktiviert, wie wenn wir selber gähnen oder lächeln. Unsere Fähigkeit, Emotionen von Gesichtsausdrücken nicht nur zu erkennen, sondern auch nachzuempfinden, ist eine wichtige Voraussetzung für Empathie und angemessene soziale Interaktionen“, so Karim. Bei Menschen mit Autismus seien genau diese Fähigkeiten, Emotionen anhand von Gesichtsmimik zu erkennen und zu interpretieren, häufig beeinträchtigt.

Möglicher Weg für neue Therapieoptionen

Die Studie der Forscher zeigt nun, wie verschiedene Unterformen von Autismus erkannt werden können. Manche Patienten, die unter Asperger-Autismus leiden, vermeiden es zum Beispiel, während der Kommunikation in das Gesicht des Gegenübers zu schauen, und haben erhebliche Schwierigkeiten damit, von der gezeigten Mimik die entsprechenden Emotionen abzuleiten. Die Arbeitsgruppe um Professor Karim hat hierfür computerbasierte Tests entwickelt, die standardisiert messen können, wie gut Asperger-Patienten Emotionen aus Gesichtsausdrücken erkennen können. „Es gibt Patienten, die Emotionen zwar anhand der Mimik erkennen können, aber selbst keine emotionale Mimik zeigen.“

Karims Fazit aus seinen Untersuchungen: „Das menschliche Gehirn ist plastisch veränderbar und durch entsprechendes Training können diese Defizite sowohl in den Spiegelneuronen als auch auf Verhaltensebene deutlich gelindert werden. Das haben wir bei vielen unseren Patienten erlebt. Daher gilt es für die weitere Forschung, die diversen Unterformen von Autismus intensiv zu analysieren. Je besser wir die Pathophysiologie dieser Unterformen verstehen, umso mehr können wir künftig maßgeschneiderte Therapien entwickeln.“

Menschen mit Autismus reagieren auf Gesichter anders

Auch der Wissenschaftler Vilayanur Ramachandran sieht in Spiegelneuronen einen Schlüssel für viele Fragen in der Autismusforschung. Er untersuchte unter anderem die sogenannten My-Wellen im EEG von Autisten und Nicht-Autisten. Bekannt war bereits, dass die My-Welle jedes Mal unterdrückt wird, wenn eine Person eine Muskelbewegung ausführt, also zum Beispiel ihre Hand öffnet und schließt. Sie wird aber auch dann blockiert, wenn die Person einer anderen bei der gleichen Handlung zusieht.

Ramachandran fand nun heraus, dass bei Autisten die My-Welle nur bei eigener Bewegungsausführung unterdrückt wird, nicht jedoch, wenn sie beoabachten, wie ein anderer die Bewegung ausführt. Der Forscher folgerte daraus, dass Autisten defekte Spiegelzellen haben. Unterstützt wurde die These schon vor einiger Zeit durch Ergebnisse anderer Studien. So konnte im MRT gezeigt werden, dass das „Gesichtserkennungsareal“ im Gehirn, das normalerweise aktiv wird, wenn wir einen Menschen ansehen, bei einigen Autisten stumm bleibt.

Stattdessen schaltet sich bei den Betroffenen ein anderer Bereich ein, der normalerweise zur allgemeinen Objekterkennung benutzt wird. Das scheint darauf hinzudeuten, dass sich für Autisten Gesichter und der Mimiken nicht von anderen Objekten unterscheiden, also nichts „Besonderes“ sind. Damit fehlt aber auch das intuitive Erkennen von Gefühlen bei anderen Personen.

Spiegelneurone als Erklärung nicht ausreichend

Kritiker wenden jedoch ein, dass sich mit Spiegelzellen nicht alle Aspekte von Autismus erklären lassen, wie zum Beispiel das typische Vermeiden von Blickkontakt, das stereotype Wiederholen von Bewegungen oder eine allgemeine Überempfindlichkeit, wie beispielsweise gegen bestimmte Geräusche. Forscher vermuten dahinter eine fehlerhafte Verarbeitung der Sinnesdaten im Gehirn. Menschen mit autistischen Störungen scheint die Fähigkeit zu fehlen, sich vor der Überflutung durch äußere Reize zu schützen. Daher reagieren sie auf scheinbar unbedeutende Ereignisse oder Objekte häufig ungewöhnlich stark.

Weitere Forschungen notwendig

Besonders starke Zweifel an der Spiegelneuronen-These äußerte im Jahr 2013 die Neurowissenschaftlerin Antonia Hamilton von der Universität von Nottingham. Sie hatte etliche Studien zu dem Thema analysiert und kam zu dem Ergebnis, dass es nur „wenig Hinweise für eine umfassende Störung des Spiegelneuronensystems bei Autismus“ gebe.

Bei Autismus handelt es sich also offensichtlich um eine vielschichtige und äußerst komplexe Entwicklungsstörung. Hinzu kommt, dass bei den Patienten oft ganz unterschiedliche Hirnregionen betroffen sind. Von einer umfassenden Erklärung sind die Forscher also noch weit entfernt.

Foto: © Photographee.eu - Fotolia.com

Hauptkategorie: Medizin
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