„Wir schauen uns auf die Finger”

Frau Dr. Grebe, ob man sich auf medizinischen Kongressen umhört oder in den Entwurf der neuen Krankenhausreform schaut – das Thema „Qualität“ hat offenbar oberste Priorität. Ist dieser Stellenwert aus Ihrer Sicht angebracht?
Grebe: Das schon, aber der Begriff „Qualität“ wird derzeit inflationär verwendet. Man muss sich zunächst einmal klarmachen, worüber wir eigentlich reden. Reden wir über die Wartezeit auf einen Facharzttermin, den Zeitdruck am Krankenbett oder über das Behandlungsergebnis? Wenn Sie näher hinschauen, werden Sie merken, dass jeder unter Qualität etwas anderes versteht.
Für den Patienten dürfte das Behandlungsergebnis entscheidend sein.
Grebe: Ergebnisqualität ist die Königsdisziplin in der ganzen Qualitätsdiskussion, die aber leider gar nicht so einfach zu messen ist. Sie können zum Beispiel die Sterblichkeitsrate oder die Komplikationsrate erfassen. Damit wissen Sie aber noch lange nicht, ob es dem Patienten nach der Operation tatsächlich besser geht und ob sich zum Beispiel das neue Hüftgelenk im Alltag bewährt. Eine gelungene Operation sagt eben nichts über das langfristige Ergebnis aus, geschweige denn über die Zufriedenheit des Patienten.
Sie meinen, Qualität hat auch immer etwas Subjektives?
Grebe: Was ich sagen will: Qualität zu definieren ist viel komplexer, als es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Das heißt aber nicht, dass wir nicht weiter alles tun müssen, um noch besser zu werden oder die Patienten vor vermeidbaren Fehlern zu schützen.
Wird da aus Ihrer Sicht genug getan?
Grebe: Die Krankenhäuser sind heute auf einem sehr guten Weg. Allein die Tatsache, dass sie sich seit Jahren mit ihrer Qualität kritisch auseinandersetzen, hat enorm viel in Bewegung gebracht. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus den Anfängen der externen Qualitätssicherung: Anfang der 1970er Jahre fiel Ärzten im Raum München auf, dass die Säuglingssterblichkeit in der Geburtshilfe von Haus zu Haus sehr unterschiedlich war. Also hat man angefangen, die verschiedensten Daten rund um die Geburt zu sammeln. Noch während der Datenerfassung ging die Sterblichkeitsrate bereits messbar zurück. Daran sieht man, dass allein das sich Befassen mit dem eigenen Handeln zu Veränderungen führt.
Heute sind die Krankenhäuser verpflichtet, einmal im Jahr ihre Qualitätsdaten offenzulegen. Ist das ein Ansporn, sich selbst genauer auf die Finger zu schauen?
Grebe: Auf jeden Fall. Viele Krankenhäuser leisten aber freiwillig noch weitaus mehr. Auch hier ist der Weg das Ziel, sprich: Wer sich offen mit seinen Daten auseinandersetzt – und das können Peer-Review-Verfahren, M&M-Konferenzen bis hin zu Patientenbefragungen sein – tut bereits eine Menge für mehr Qualität. Unser Klinikkonzern tritt damit zunehmend nach außen auf. Deshalb finden Sie auch bspw. unsere Statistiken über resistente Keime oder unsere IQM-Daten zu Sterblichkeit und Komplikationen auf unserer Internetseite,. Ich bin überzeugt, Transparenz schafft Vertrauen.
Dem Gesetzgeber scheinen die Qualitätsanstrengungen nicht ganz zu reichen. Mit finanziellen Zu- und Abschlägen will er künftig gute Leistung belohnen und schlechte bestrafen. Wie sehen Sie diese staatliche Zensur?
Grebe: Hier bin ich gespannt auf die konkrete Ausgestaltung der Umsetzung. Sie brauchen justiziable Qualitäts-Messinstrumente und bis die entwickelt sind, wird noch viel Zeit vergehen.
Immerhin wurde im Januar ein neues Qualitätsinstitut geschaffen, das genau dieses Pay-Performance-Konzept auf den Weg bringen soll.
Grebe: Auch hier wird sich zeigen, wie dies in der Praxis aussehen wird. Ich halte es jedenfalls nicht für sinnvoll, dass man schlechte Qualität einfach schlechter bezahlt. Wenn eine Abteilung dauerhaft schlechte Leistungen bringt, gehört sie meiner Meinung nach geschlossen. Grundsätzlich ist gegen finanzielle Anreize nichts einzuwenden, aber wie gesagt: Mir ist nicht ganz klar ist, wie das in der Praxis funktionieren soll.
Was würde Vivantes denn als Erstes mit mehr Geld tun?
Grebe: Das kann ich Ihnen sagen: Pro Schicht eine Pflegekraft mehr einsetzen – das würden nicht nur die Patienten, sondern auch unsere Pflegekräfte unmittelbar spüren. Dafür braucht man kein Qualitätsinstitut.
Wurde nicht soeben im Krankenhausstrukturgesetz mehr Geld für Personal zugesagt?
Grebe: Die finanziellen Zugeständnisse haben wir hart erkämpft. Dennoch reichen sie nicht, um die Lücke zwischen unseren Einnahmen und den wachsenden Ausgaben etwa durch Tarifsteigerungen zu schließen. So lange das so ist, bleibt die zusätzliche Pflegekraft pro Schicht eine Illusion.
Berlin hat noch ein weiteres Problem: Das Land investiert so wenig wie kein anderes Bundesland in seine Krankenhäuser.
Grebe: Berlin ist diesbezüglich leider seit Jahren das bundesweite Schlusslicht. Nächstes Jahr soll es rund 110 Millionen Euro für Investitionen geben – wohlgemerkt für alle Berliner Krankenhäuser. Das ist ein gewisser Lichtblick. Allerdings benötigen die Krankenhäuser mindestens doppelt so viel Geld für dringend notwendige Investitionen. Darüber hinaus wird der neue Krankenhausplan einen Bettenzuwachs ausweisen. Damit trägt man der wachsenden Metropolregion Rechnung: Rund 40.0000 Menschen ziehen jedes Jahr nach Berlin.
Jetzt kommen noch die Flüchtlinge hinzu. Könnte es Versorgungsengpässe geben?
Grebe: Momentan kann überhaupt keine Rede davon sein. Das Engagement der Menschen in Berlin ist einfach beeindruckend. Bürger, Ärzte und Pfleger melden sich freiwillig, ganz einfach weil sie helfen wollen. Und das nicht nur bei uns, sondern auch in kleineren Häusern. Viele tun das ehrenamtlich in ihrer Freizeit. In den großen Einrichtungen wie Tempelhof und Spandau zählt die Vor-Ort-Versorgung aber inzwischen als offizielle Arbeitszeit.
Fehlen die Mitarbeiter denn nicht an anderer Stelle?
Grebe: Bei Vivantes wird kein einziger Mitarbeiter wegen der Flüchtlingsversorgung aus der regulären Krankenversorgung abgezogen. Wir haben sogar Ärzte aus dem Ruhestand wieder eingestellt, damit die Versorgung reibungslos klappt. Wir fragen momentan auch nicht, wann genau wir das refinanziert bekommen. Wir machen einfach. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Im Übrigen sehen wir gerade am Beispiel der Flüchtlinge, auf welch hohem Niveau wir uns in Deutschland in der gesamten Qualitätsdiskussion bewegen. Manchmal ist es gut, ein wenig über den Tellerrand zu blicken.
Dr. Andrea Grebe ist Fachärztin für Innere Medizin und hat einen Masterabschluss in Public Health. Seit 2014 ist sie Vorsitzende der Geschäftsführung des landeseigenen Klinikkonzerns Vivantes und damit Chefin von rund 15.000 Mitarbeitern, darunter 2.000 Ärzte.
Das Interview ist zuerst in der Tagesspiegel-Beilage „Qualität & Patientensicherheit“ am 27. November 2015 erschienen.
Foto: Wuestenhagen