Wie kindliche Traumata die Wahrnehmung verändern können

Traumata in der Kindheit können das ganze Leben beeinflussen
Starke psychische Belastungen in der Kindheit führen häufig dazu, dass die Betroffenen im Erwachsenenalter Depressionen und Angsterkrankungen entwickeln. Das belegen zahlreiche Studien. Doch was sind die Gründe für diese größere Anfälligkeit? Führen Traumata als Kind möglicherweise zu einer dauerhaft veränderten Wahrnehmung von sozialen Reizen? Diese Frage haben sich Wissenschaftler der Abteilung für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Bonn (UKB) mit ihren Kollegen der Ruhr-Universität Bochum und aus Chengdu (China) gestellt und dazu über 90 Personen untersucht, die in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen erlebt haben. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in „The American Journal of Psychiatry“.
Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie war, dass die Probanden weder unter neurologischen Erkrankungen litten noch Medikamente einnahmen, welche Einfluss auf die Resultate haben könnten. Die Wissenschaftler untersuchten nun die sensorische Wahrnehmung der Teilnehmer, indem sie mit einer Hand entweder in einer schnellen oder einer langsameren Bewegung über die nackte Haut der Schienbeine strichen. „Berührungen sind von zentraler Bedeutung, weil sie die Gehirnentwicklung beeinflussen, ein Gefühl für den eigenen Körper vermitteln und als Stressregulator dienen“, so Dr. Dirk Scheele von der Abteilung für Medizinische Psychologie des UKB.
Reaktion auf Berührungen verändert
Ayline Maier, Erstautorin der Studie, erläutert, dass zwischenmenschliche Berührungen über zwei unterschiedliche Nervenfasern in der Haut vermittelt werden. So übertragen Aß-Fasern den sensorischen Reiz und sprechen primär auf schnellere Berührungen an, C-taktile Fasern hingegen übertragen das emotionale Wohlgefühl und werden primär durch langsame Berührungen aktiviert.
Während der Experimente lagen die Probanden im MRT und konnten den Experimentator nicht sehen, der die Bewegungen vollführte. Dessen Hände steckten in Baumwollhandschuhen, um direkten Hautkontakt zu vermeiden. Nach jedem Messdurchgang wurden die Probanden befragt, wie beruhigend die Berührungen empfunden wurden.
Es zeigte sich, dass zwei Gehirnregionen umso stärker auf schnelle Berührungen reagierten, je ausgeprägter die Misshandlungserfahrungen während der Kindheit waren, nämlich der somatosensorische Kortex sowie die posteriore Inselrinde. Der somatosensorische Kortex ist im Gehirn in etwa über dem Ohr lokalisiert und registriert, wo eine Berührung stattfindet. „Dieses Areal kodiert haptische Empfindungen und ist an der Vorbereitung und Initiierung von Körperbewegung beteiligt – zum Beispiel daran, das berührte Bein wegzuziehen“, so Maier. Die posteriore Inselrinde ist ein tief im Gehirn hinter der Schläfe liegendes Areal, das für jegliche Körperwahrnehmung wie Berührung, Hunger, Durst und Schmerz zuständig ist. Bei stark traumatisierten Menschen war die Aktivität bei schnellen Berührungen in diesen beiden Arealen deutlich erhöht.
Größerer Wunsch nach sozialer Distanz
Der Hippocampus hingegen wurde bei langsamen Berührungen deutlich schwächer aktiviert, wenn traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht worden waren. „Konkret könnte die Aktivität des Hippocampus widerspiegeln, wie belohnend eine Berührung im Experiment empfunden wurde“, erläutert Maier. Stärker traumatisierte Teilnehmer könnten insbesondere eine langsame und damit emotionaler aufgeladene Berührung als weniger belohnend empfinden.
Die Wissenschaftler untersuchten auch das Empfinden der sozialen Distanz der Teilnehmer. Dazu wurden diese gebeten, auf einen ihnen unbekannten Menschen zuzugehen und stehen zu bleiben, wenn die Distanz gerade noch als angenehm empfunden wurde. Er war bei stärker traumatisierten Menschen deutlich größer – im Schnitt um zwölf Zentimeter.
Suche nach neuen Therapieansätzen
„Die Resultate zeigen, dass bei Menschen mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit die Wahrnehmung und die sensorische Verarbeitung verändert sind“, fasst Scheele die Ergebnisse zusammen. Berührungen wirken weniger beruhigend als bei Personen ohne Misshandlungserfahrung. Wie Kontrolluntersuchungen zeigen, seien dafür nicht die Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angstattacken verantwortlich, sondern die Traumatisierung selbst.
„Dieses Ergebnis eröffnet jedoch möglicherweise auch Chancen für neue Therapien: Ergänzende körperbasierte Therapien in einem sicheren Umfeld könnten ein Umlernen dieser Reizverarbeitung ermöglichen“, vermutet Maier. Weitere Studien sollen nun ergründen, wie diese Therapien aussehen könnten.
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