Wenn geistig behinderte Menschen ins Krankenhaus müssen

Die Diagnose ist schwer zu stellen – Foto: Jaren Wicklund - Fotolia
Oberarzt Dr. Jörg Stockmann fordert mehr behindertengerechte Krankenhäuser. Doch widerspricht das dem Gleichbehandlungsgrundsatz, wie sie der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung einfordert?
Das Bielefelder Krankenhaus, das von dene Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel getragen wird, ist bundesweit die einzige Klink, die sich mit ihrer internistischen und chirurgischen Abteilung auf Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung spezialisiert hat. Patienten kommen aus dem ganzen Bundesgebiet.
Zu den Fällen zählt etwa die Frau, die nicht mehr gehen wollte, weil ihr Bein weh tat. In einer anderen Klinik war sie bereits geröntgt worden - ohne Ergebnis. Dort hatte man die Region vom Sprunggelenk bis zur Mitte des Oberschenkls durchleuchtet. Im Mara wurde festgestellt, dass sie einen Oberschenkelhalsbruch erlitten hatte.
Sie war gestürzt. „Nach mehreren Telefonaten mit der Einrichtung, in der sie lebt, erinnerte sich eine Betreuerin, dass man sie in der Behinderten-Werkstatt auf dem Boden gefunden habe. Den Sturz hatte keiner beobachtet.“ Die Patientin konnte darüber nicht berichten, aber sie konnte sagen, dass sie Schmerzen hat.
Aber selbst das können viele Menschen mit geistiger oder mehrfache Behinderung nicht. Meist sind auffällige Verhaltensänderungen wie Beißen oder Schlagen und eine allgemeine „Verschlechterung des Allgemeinzustandes“ Grund für die Einweisung. Dahinter können organische Ursachen stecken. „Manchmal sind auch Veränderungen im Umfeld, wie ein Wechsel der Bezugsperson, der Auslöser“, so Dr. Stockmann. Um das herausfinden, ist die genaue Erhebung der Fremdanamnes
Geistig behinderte Menschen im Krankenhaus: Schwierige Diagnose
Die Patienten können oft keine Selbstauskünfte geben. Die Ärzte brauchen also mehr Zeit zur Beobachtung. Viele diagnostische Maßnahmen ängstigen die Patienten oder führen zu Abwehrreaktionen. „Blutentnahme oder Ultraschall führen wir – falls erforderlich - mit leicht sedierenden Medikamenten durch“, so Oberarzt Stockman. Auch langes Still-Liegen ist für viele schwierig. Ist ein MRT indiziert, wird dieses unter Vollnarkose durchgeführt.
„Das ist ein sehr invasives Vorgehen. Wir sind jede Woche aufs Neue im Zwiespalt und müssen abwägen: Wie weit gehe ich mit der Diagnostik, insbesondere wenn sie risikoreich oder belastend ist. Aber auch: Wann sind Grenzen erreicht, an denen auch für sehr schwer geistig behinderte Menschen das Recht auf Selbstbestimmung greift. Wir sind immer unsicher“, räumt Oberarzt Stockemann ein. Es fehlen Behandlungsleitlinien, auch gibt es hierzulande keine Forschung dazu.
In Kanada etwa haben die Hausärzte ein Konsens-Papier zur Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung verfasst, in Holland gibt es sogar einen Lehrstuhl für Medizin für Menschen mit geistiger Behinderung (Prof. Heleen Evenhuis) und eine entsprechende Zusatzausbildung. In Deutschland gibt es nur ergänzende Module, die die Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung anbietet.
Menschen mit geistiger Behinderung im Krankenhaus: Erhöhte Krankeitsrisiken
Mit der geistigen oder mehrfachen Behinderung sind die Risiken für bestimmte Krankheiten erhöht. Psychische Erkrankungen wie Depressionen treten bis zu dreimal häufiger auf als in der Gesamtbevölkerung. Ein hohes Risiko besteht für Atemwegserkrankungen. Die können zum einen Folge der Medikation sein, oft werden die für Psychotiker gedachten Neuroleptika verschrieben, um die Patienten zu beruhigen. Sie reduzieren den Hustenreflex. Diese Patienten-Gruppe verschluckt sich aber ohnehin häufiger. Ohne das Abhusten gelangen dann jedesmal Bakterien in in die Luftröhre und lösen bisweilen eine Bronchitis bis hin zur Lungenentzündung aus.
Die Bronchitis zeigt bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung zuweilen unübliche Symptome. Andere Kranke fiebern und husten, „diese Patienten sind vor allem benommen, fast komatös. So befürchtet man zunächst Schlaganfall oder Hirnschlag und macht ein CT vom Kopf – bis sich herausstellt, dass es eine Bronchitis war“, berichtet der Mediziner. Auch Verstopfung ist ein häufiges Problem, eine Nebenwirkung verschiedener Psychopharmaka.
Die Ärzte brauchen mehr Zeit und Umsicht , auch an die Krankenschwestern werden andere Anforderungen gestellt. So müssen sie etwa körperlich eingeschränkte Patienten mobilisieren und lernen, mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen umzugehen und sie richtig einzuschätzen. Das Mara-Krankenhaus rechnet als als „besondere Einrichtung“ nicht nach Fallpauschale sondern nach Tagessatz ab. Kostendeckend ist er nicht.
Dennoch: Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung benötigten im Krankenhaus eine besondere Pflege und Behandlung, davon ist Dr. Stockmann überzeugt. Nur dann können sie gleichberechtigt vom medizinischen Forschritt profitieren.
Foto: Jaren Wicklung