Vorsitzender des Deutschen Ethikrats hält doppelte Widerspruchslösung für Mogelpackung

Widerspruchslösung versus Freiwilligkeit: Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats bringt wichtige Argumente ins Feld – Foto: ©MQ-Illustrations - stock.adobe.com
Noch in diesem Jahr müssen die Parlamentarier über die Einwilligungsform zur Organspende entscheiden. Dabei stehen zwei neue Vorschläge im Raum: Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD) eingebrachte „doppelte Widerspruchsregelung“, wonach jeder automatisch zum Organspender wird, der zu Lebezeiten nicht widersprochen hat. Und zweitens die Alternative, dass die Menschen weiter wie bisher freiwillig entscheiden, aber aktiver bei Behörden oder beim Arzt auf Organspende angesprochen werden. Diese Gesetzesvorlage stammt von einer Gruppe um die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock.
Bisher steht es bei den Abgeordneten 50:50, viele sind aber noch unentschieden. Ganz anders der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Peter Dabrock. Der Ordinarius für Systematische Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat eine sehr klare Position: In einem Gastbeitrag im Tagesspiegel vom Mittwoch, begründete er jetzt seinen Vorbehalt gegenüber Spahns Gesetzesvorlage der „doppelten Widerspruchslösung“.
„Doppelt“ ist irreführendes Marketing
Allein der Titel sei irreführendes Marketing, schreibt er, denn die Widerspruchslösung sei nicht doppelt. „Wie kann man von „doppelt“ sprechen, wenn schon auf Seite zwei des Gesetzentwurfes steht: „Dem nächsten Angehörigen des möglichen Organ- oder Gewebespenders steht … kein eigenes Entscheidungsrecht zu?“
Habe das eigene Kind oder der Partner zu Lebzeiten nicht widersprochen und sei der Wille des Sterbenden letztendlich unbekannt, könnten die Angehörigen eine Organentnahme nur verhindern, indem sie lügen würden: “Wir wissen, dass ein Widerspruch zu Lebzeiten vorlag.“
Eine Entlastung für die Angehörigen, wie von Spahn & Co. versprochen, sei die Widerspruchsregelung darum nicht, meint der Theologe. Denn auch gegenwärtig sollten sie nur bezeugen, wie der Wille ihres Angehörigen zu Lebzeiten war.
Schweigen als Zustimmung
Aber es gebe einen riesigen Unterschied zur drohenden Widerspruchsregelung, schreibt er weiter. Bislang werde kein Organ entnommen, wenn der Wille des Sterbenden unbekannt sei – nach Spahns Entwurf werde aber Schweigen als Zustimmung gedeutet. „Die jetzige Regelung achtet damit ganz anders als die Widerspruchsreglung nicht nur und vorrangig das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, sondern bettet es ein in das familiäre Gefüge. Jeder, der für die Widerspruchsregelung stimmen will, muss sich überlegen, ob er oder sie so an existentiellen Gefühlen von Familien vorbeigehen will.“
Körper wird zum Objekt des Staates
Spahn und Lauterbach rechtfertigen ihren Gesetzesvorschlag damit, dass es nur insofern einen Einschnitt in die Selbstbestimmung gebe, als dass sich jeder eben einmal mit dem Thema beschäftigen müsse. Doch die Folgen seien viel massiver, wendet der Ethiker ein: „Hat man sich nicht damit beschäftigt, dann wird der eigene Körper nach dem Hirntod zum Objekt des fürsorgenden Staates.“
Bruch mit der deutschen Rechtskultur
Das sei mehr als ein Stilbruch; es sei auch ein Bruch mit der Deutschen Rechtskultur, die vor dem Hintergrund der Nürnberger Ärzteprozesse die informierte Einwilligung des Patienten achte. Ausgerechnet bei einer Frage von Leben und Tod mit erheblichen Konsequenzen für Familie und Gesellschaft solle aber Schweigen als Zustimmung gelten, schreibt Dabrock. „Dagegen hilft auch nicht das Argument, dass 20 Staaten um uns herum die Regelung praktizieren.“
Zudem argumentiert der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, dass sich viele Menschen nicht als informiert einschätzen. Und Hand aufs Herz: Wer kennt sich schon mit dem Hirntod aus und weiß, wie Hirntod-Diagnostik und Organentnahme genau ablaufen? Bei so vielen Unsicherheiten, wäre es aus Sicht des Ethikers vermessen, Schweigen mit Zustimmung gleichzusetzen.
Schwerer Schaden für das Transplantationssystem befürchtet
Auch das von Spahn ins Feld geführte Argument, die Widerspruchslösung werde die Zahl der Organspenden erhöhen, entkräftet der Theologe: Erstens zeigten Studien, dass es keinen Zusammenhang zwischen Organspendesteigerung und Widerspruchsregelung gebe. Viel schwerer wiegt aber seiner Ansicht nach, dass das Modell vermutlich eher das Gegenteil erreicht: „Es ist zu befürchten, dass die Menschen merken, dass eine an der falschen Stelle einsetzende Moralisierung… und ein Angriff auf unsere etablierte Rechtskultur das Vertrauen, das das Transplantationssystem bitter nötig hat, noch weiter sinken lässt.“ So werde der guten Sache der Organtransplantation ein schwerer Schaden zufügt.
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