Medizinisches Cannabis: Risiken wie Abhängigkeit kaum untersucht

Über die Risiken und Nebenwirkung von Cannabis in der Medizin ist bisher wenig bekannt
Mit dem 2017 verabschiedeten Cannabis-Gesetz geht Deutschland einen Sonderweg: Deutschland ist das einzige Land in Europa, in dem die Verschreibung von medizinischem Cannabis und cannabisbasierten Arzneimittel nicht auf spezielle Indikationen beschränkt wurde. Folglich ist die Nachfrage von Patienten und Ärzten exorbitant gestiegen. Dabei ist Cannabis in dieser Breite kaum bis gar nicht untersucht
Eine Entwicklung, die von vielen Experten kritisch gesehen wird. Nun haben verschiedene medizinische Fachgesellschaften und Fachverbände eine Stellungnahme veröffentlicht, in dem sie vor einem unkritischen Einsatz von Cannabis warnen. Der Nutzen würde an eindrucksvollen Patientenbeispielen dargestellt, über Therapieversagen und Nebenwirkungen hingegen kaum berichtet, heißt es in der Stellungnahme, die sich an Ärzte, Politiker und Journalisten richtet. Außerdem werde häufig nicht zwischen Medizinalcannabis und cannabisbasierten Rezeptur- und Fertigarzneimitteln unterschieden.
Keine Studien, keine Zulassung, aber breite Anwendung
Das Problem: Für Cannabisblüten gibt es weder Zulassungsstudien noch Fachinformationen. Daher fehlen Informationen zu Indikationen, Dosierung, Darreichungsform, Anwendungsdauer, Gegenanzeigen oder Nebenwirkungen. Auch wurde bisher die Häufigkeit von Risiken nicht erfasst. „Es gibt kaum Studien zur Langzeitwirkung. Wir wissen deshalb nicht, wie hoch das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung ist“, sagt PD Dr. Eva Hoch von der LMU Universitätsklinik München, die mit ihrer Forschungsgruppe im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit eine große Meta-Studie zu Potenzial und Risiken von Cannabinoiden durchgeführt hatte. Daher sei es unklar, welchen Menschen von der Behandlung mit Cannabisarznei abgeraten werden sollte.
Nicht gerechtfertigte Hoffnungen bei chronischen Schmerzen
Auch die Präsidentin der Deutschen Schmerzgesellschaft Prof. Claudia Sommer weist auf die unzureichende Studienlage hin und meint, es sei eine Pflicht die Patienten über den aktuell noch unzulänglichen Wissensstand zu informieren. Zudem warnt sie vor zu hohen Erwartungen. „Die Darstellung eines vermeintlichen Nutzens von „Cannabis“ bei chronischen Schmerzen hat in einem bisher nicht gerechtfertigten Maß Hoffnung auf ein wirksames und vermeintlich natürliches Arzneimittel geschürt“, so Sommer. Medizinische Fachgesellschaften seien dazu aufgerufen, interdisziplinäre Leitlinien zum Umgang mit cannabisbasierten Arzneimitteln zu erstellen.
Das Cannabis-Gesetz hat jedoch den Anreiz genommen, Cannabis weiter zu erforschen. In der Stellungnahme werden Ärzte dazu aufgerufen, die betäubungsmittelrechtlichen Regularien in der Verschreibung von Cannabispräparaten zu beachten und an der Begleiterhebung teilzunehmen. „Bringen Sie die von Ihnen behandelten Patienten in die Forschung ein. Beteiligen Sie sich an der Veröffentlichung von Fallserien, damit wir in den nächsten Jahren Wirkungen und Risiken besser erfassen und damit die Indikationen klarer definieren können“, appelliert Prof. Dr. Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Dieser Aufruf gilt auch für cannabisbasierte Fertigarzneimitte, wie den für die symptomatische Therapie der Spastik bei Multipler Sklerose (MS) zugelassenen Cannabis-Spray. Auch bei dieser Indikation müssten die potentiellen psychiatrischen und kognitiven Nebenwirkungen beachtet und weiter untersucht werden.
Publikationen zu Cannabis hinterfragen
Sorge bereitet den Verfassern der Stellungnahme außerdem das Vorgehen der Cannabisindustrie. Diese setze erhebliche Summen für gezielte Werbeaktivitäten über Onlineportale oder Beilagen in Fachzeitschriften ein, zum Beispiel auch im renommierten Deutschen Ärzteblatt. Bedenklich sei dabei, dass Autoren ohne Bezugnahme auf den internationalen Wissensstand, sondern eher aufgrund ihrer eigenen klinischen Erfahrungen und Positionen einen breiten Indikationsbereich von cannabisbasierten Arzneimitteln propagieren würden. Dabei sei Studienlage häufig oder ungenügenden oder spärlich.
„Ärztinnen und Ärzte tragen eine besondere Verantwortung“, sagt Prof. Dr. Anil Batra, Vorsitzender der Deutschen Suchtgesellschaft (DSG). “Bitte prüfen Sie diese Publikationen kritisch und gehen Sie sorgfältigen mit cannabisbasierten Arzneimitteln um.“ Gerade bei vulnerablen Gruppen wie Kindern, Jugendlichen, Schwangeren, Personen mit Abhängigkeitserkrankungen, Psychosen und anderen psychischen Störungen und mit schweren Herzkreislauferkrankungen seien Kontraindikationen zu beachten.
Cannabis bei Kindern und Jugendlichen hat Folgen fürs Gehirn
Prof. Dr. Rainer Thomasius, Vorsitzender der Suchtkommission der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und Verbände, verweist auf Kontraindikationen für den Einsatz im Kindes- und Jugendalter: "Die epigenetischen und neuromodulatorischen Effekte der Cannabinoide stören den altersgerechten Reifungsprozess des zentralen Nervensystems mit der möglichen Folge von Lernstörungen, Intelligenzeinbußen und Suchtentwicklung".
Weiter werden Politiker aufgefordert, die Forschungsförderung im Bereich der cannabisbasierten Arzneimittel zu unterstützen. Ergebnisse von Studien und anderen Forschungsansätzen wie Patientenregister und Fallserien seien eine bessere Grundlage für die Anwendung von medizinischem Cannabis als die bisherigen Erkenntnisse.
Die Stellungnahme MEDIZINALCANNABIS UND CANNABISBASIERTE ARZNEIMITTEL: EIN APPELL FÜR VERANTWORTUNGSVOLLEN UMGANG haben unterzeichnet: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) – Referat Abhängigkeitserkrankungen, Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, Deutsche Suchtgesellschaft – Dachverband der Suchtfachgesellschaften (DSG, Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin, Deutsche Gesellschaft für Suchtpsychologie), Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP), Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP), Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Deutsche Schmerzgesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin
Foto: pixabay