Sollten Kommunen eine stärkere Rolle bei der Gesundheitsversorgung spielen?

Wie Kommunen mehr Einfluss auf die lokale und regionale Gesundheitsversorgung (zurück)gewinnen können, zeigt der Fall Reutlingen. Hier holte die Kommune die Akteure des Gesundheitswesens schon vor zehn Jahren an einen Tisch. – Foto: AdobeStock/Andreas Böhm
Bevor die Experten auf dem Podium zu Wort kommen, fordert Moderator Heinz Lohmann erst einmal das Publikum heraus. Die Zuhörer auf dem Demografiekongress 2021 in Berlin sollen einmal spielerisch in die Rolle von Parlamentariern schlüpfen und per Handzeichen abstimmen: Sollten Kommunen eine stärkere Rolle in der Gesundheitsversorgung spielen – ja oder nein? „Wer ist dafür?“, fragt Lohmann. Eine einzige Hand zeigt einsam nach oben. Der Hamburger Gesundheitsunternehmer kündigt daraufhin an, am Schluss der Veranstaltung dieselbe Frage demselben Publikum noch einmal zu stellen – und umso gespannter waren die Teilnehmer der Veranstaltung auf die nun folgende, im Programm angekündigte „Battle of Arguments" auf dem Podium – und den Ausgang der Abstimmungswiederholung ganz am Ende.
Kaufmann: „Kommunen müssen von der Bande aus zusehen“
„Wir Kommunen haben ein sehr großes und wachsendes Interesse, gesunde Bürger zu haben, und sie dafür von der Prävention über Erkrankungen bis zur Genesung zu begleiten“, sagte die Dresdener Gesundheitsbürgermeisterin Kris Kaufmann. Seien Kommunen aber nicht selbst Träger von Gesundheitseinrichtungen, seien sie auf die Rolle reduziert, das Geschehen im Gesundheitssystem von der Bande aus zu beobachten.
Hildebrandt: „Wir haben ein Problem in der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“
Vor welche gravierenden Herausforderungen die Kommunen stehen, skizzierte der Vorstandschef der OptiMedis AG, Helmut Hildebrandt. „Wir haben ein Problem in der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und der Organisation der Gesundheitsversorgung“, sagt der Gesundheitsexperte aus Hamburg, und machte „prekäre Regionen“ unterschiedlicher Prägung innerhalb des Bundesgebiets aus. In entrückten Gebieten wie der Uckermark, aber auch in Täler des Schwarzwalds im Wohlstandsland Baden-Württemberg sinken die Einwohnerzahlen stetig. Die Verbliebenen werden nicht nur älter, sondern dabei auch noch zunehmend kränker.
Demografische Gefahr: Entleerung von Landstrichen
Der demografische Wandel treibt den Bedarf an einer qualitativ hochwertigen Gesundheits- und Pflegeversorgung nach oben, während der Bevölkerungsschwund zu einer Ausdünnung der Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Verkehr) führt. Fachkräfte wie Hausärzte sind schwer zu gewinnen – die verbliebenen gehen irgendwann selbst in den Ruhestand oder wandern ab. Prekär sei auch die Lage in den sozialen Brennpunkten vieler (Groß-)städte, wo der Bedarf an Prävention und Gesundheitsmaßnahmen besonders dringlich sei. Doch das Problem sei, „dass gerade diese ärmeren Regionen besonders viel investieren müssten – aber es nicht können“.
Kritik: „Bundesweite Standardlösungen ersetzen auf Regionen zugeschnittene“
Hildebrandt kritisierte auch eine zunehmende Zentralisierung von Gestaltungsmacht. In überregionalen Gesundheitskonzernen etwa würden Kompetenzen zunehmend auf die Landes- und Bundesebene verlagert. Auch Kassen hätten sich vielfach „aus der lokalen Ebene zurückgezogen“ und setzten statt auf regional passende auf bundesweit uniforme Standardlösungen. Die Konsequenz laut Hildebrandt: „Auf der kommunalen Ebene ist oft kaum noch Knowhow darüber vorhanden, wie die Gesundheitsversorgung gut organisiert werden kann."
Reumann: „Wir brauchen eine neue Kultur der Gesundheitsversorgung – vom Patienten her gedacht“
Der ehemalige Reutlinger Landrat, Thomas Reumann (CDU), forderte eine Abkehr vom beschriebenen „Top-down-Ansatz“ im Gesundheitswesen. „Gesundheit ist kein Gut wie jedes andere und ist so wichtig wie Bildung, Infrastruktur und Straßenbau“, sagt Reumann, der von 2015 bis 2017 auch Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) war. „Wir brauchen eine neue Kultur der Gesundheitsversorgung – vom Patienten her gedacht“, sagte Reumann, „eine dezentrale, regionalisierte Gesundheitsversorgung und eine Vernetzung auf Basis von kleinräumigen Analysen. Das ist die Zukunft.“
Lösungsansatz 1: Die regionale Gesundheitskonferenz
Auch wenn wichtige Entscheidungen oft wo anders fallen: Mit ihren Versorgungsaufträgen für die Krankenhausversorgung, den Rettungsdienst und den öffentlichen Gesundheitsdienst sind die Kommunen in einem gewissen Rahmen tatsächlich schon jetzt und bisher Akteure in der regionalen Gesundheitsversorgung.
Welche Möglichkeiten Landkreise oder Städte haben, um die regionale Gesundheitsversorgung mitzugestalten oder zu lenken, illustrierte Reumann am Beispiel seines eigenen Landkreises. Dieser veranstaltete – als erster in Baden-Württemberg – eine Gesundheitskonferenz, die die lokalen und regionalen Player an einen Tisch holte. Mit dabei waren Universitätsklinika, Krankenkassen, Ärzte, Krankenhäuser, Bürgermeister und Bildungseinrichtungen. „Sehr gute Erfahrungen“ habe der Landkreis auch mit der Etablierung von lokalen Gesundheitszentren zur Primärversorgung gemacht, in der ärztliche und nichtärztliche Gesundheitsberufe interdisziplinär zusammenarbeiteten.
Lösungsansatz 2: Kommunale Karies-Prävention bei Kindern
Wie kommunale Gesundheitskompetenz aufgebaut werden – und sich schließlich entfalten kann, beschrieb die Gesundheitsbürgermeisterin Kaufmann anhand der Erfahrungen mit der in städtischer Trägerschaft geführten Kinder- und Jugend-Zahnklinik in Dresden. Die sei „mit kommunalem Geld finanziert und recht teuer“, rechtfertige aber die gestalterischen Hebel, die der Stadt dadurch in die Hand gegeben würden. „Das Team zieht einmal im Jahr durch Schulen und geht in die Klassen eins bis vier“, erzählte Kaufmann. „65 Prozent der Kinder haben mittlerweile ein gesundes, unkariöses Gebiss“.
Dresden fordert Mitspracherecht bei Besetzung von Kassenarzt-Sitzen
Die Dresdner Gesundheitspolitikerin erhob in ihrem Diskussionsbeitrag zugleich zwei klare politische Forderungen: Erstens müsse die kommunale Ebene mehr Handlungswissen bekommen – durch einen Zugriff auf aussagekräftiges statistisches Datenmaterial über Gesundheitszustand und Krankheitsbilder der eigenen Bürger. Zweitens müssten „auch Kommunen Kassenarzt-Sitze erhalten“, die sie in Eigenregie vergeben könnten, denn: „Auch wenn wir vielleicht den Versorgungsauftrag nicht haben – ein Gesundheitsinteresse haben wir allemal. Es geht um das Recht, in Lücken stoßen zu dürfen, wenn bestimmte Bereiche nicht abgedeckt sind.“
Knieps: „Kommunen und Bürger – ja. Mehr Staat im Gesundheitswesen – nein“
Der Chef des BKK-Dachverbands, Franz Knieps, wechselte dann auf die Meta-Ebene und spielte durch, wie sich der diskutierte neue Ansatz dezentraler Gesundheitsversorgung am besten in die Praxis umsetzen ließe und wo dabei Tücken auftauchen könnten. „Think global, act local“, sagte Knieps, lange Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium unter Ulla Schmidt (SPD). Auf die Bundesländer könne man sich nicht verlassen, sagte Knieps in Anspielung auf den Investitionstau im stationären Bereich. Seit vielen Jahren vernachlässigen die Länder ihre Aufgabe, die Investitionskosten der Krankenhäuser in voller Höhe zu übernehmen, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind.
„Kommunen und Bürger – ja. Mehr Staat im Gesundheitswesen – nein“, sagte Knieps. Die Corona-Pandemie habe die Vorstellung, drei Beamte wüssten alles besser, als Illusion entlarvt. Es sei deutlich hilfreicher, mit Anreizen zu arbeiten als mit Verboten, sagt Knieps. Die Umsetzung von „Wer-macht-was? Wer-braucht-was? Und wofür?“ müsse ohne den Aufbau einer neuen Bürokratie funktionieren. Seine Erfahrungen dazu aus der Pandemie nannte Knieps „katastrophal“.
Aufruf, auch unkonventionelle Wege zu gehen
Städten und Gemeinden riet er, gerne auch einmal einen Blick ins Ausland zu wagen, „um lokale und auch unkonventionelle Wege“ für sich zu entdecken. Knieps, der als einer der profiliertesten Kenner des undurchsichtigen und überkomplexen deutschen Gesundheitswesens gilt, verbreitete am Ende dennoch Zuversicht, in dem er den Dichter Friedrich Hölderlin zitierte, der einmal sagte: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Überraschender Ausgang des Vorher-Nachher-Publikums-Votings
Zurück zu Heinz Lohmann, dem Moderator, der seine Ankündigung vom Anfang wahrmachte, zum Ende der Veranstaltung dasselbe Publikum noch einmal über dieselbe Frage abstimmen zu lassen. Mehr „Kommune“ bei der Gesundheitsversorgung – ja oder nein? Bei der Frage „Wer ist dafür?“ plötzlich ganz viele Handzeichen, eine sichtlich klare Mehrheit.