
Mit ADHS haben viele Patienten noch im Erwachsenenalter zu kämpfen. Das kann bedeuten: unbewältigte Wäscheberge, ignorierte Termine, Beziehungsprobleme, Depressionen, Süchte. Mögliche positive Seite: Diese Menschen gelten oft als lebendig, spontan und kreativ. Experten vermuten, Mozart könnte ADHS gehabt haben. – Foto: AdobeStock/Libero
Kinder sind von Natur aus quietschlebendig, manchmal aufgekratzt, trotzig und zornig. Das ist gesund, solange die Balance stimmt. Bei manchen aber stimmt sie nicht: Sind Kinder sechs Monate oder länger anders, als es Alter oder Entwicklungsstand entspricht, oder verursachen sie laufend Konflikte in Familie, Kindergarten oder Schule, leiden sie oft an ADHS, der „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“. ADHS ist keine Laune: Es ist eine ernstzunehmende Erkrankung – inzwischen sogar die häufigste psychische bei Schulpflichtigen zwischen 6 und 18 Jahren.
ADHS: Mythen und Vorurteile
Weil Ursachen und Verlauf dieser Krankheit individuell und vielschichtig sind und sie nicht so einfach „repariert“ werden kann wie ein gebrochener Arm, ranken sich Mythen um sie und Vorurteile. „Das schlimmste Vorurteil ist, dass ADHS ein Produkt schlechter Erziehung ist“, sagt Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie am Uniklinikum Frankfurt. „Es ist fatal, wenn Eltern eine Schuld zugesprochen wird, die sie gar nicht haben.“
Reizfilterung im Gehirn gestört
Ausgelöst werden die Verhaltensprobleme durch eine neurobiologische Funktionsstörung im Gehirn. In den Regionen, die für Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle zuständig sind, ist das Gleichgewicht wichtiger Botenstoffe und damit die Informationsverarbeitung gestört. Eine Fülle unsortierter, unzureichend gefilterter Reize überflutet das Gehirn und führt zu den typischen Auffälligkeiten – unaufmerksames, impulsives und hyperaktives Verhalten. Erkannt wird ADHS häufig erst, wenn Kinder sich zum ersten Mal in ein Regelwerk äußerer Strukturen einfügen müssen wie Kindergarten oder Schule.
Diagnose muss sehr sorgfältig gestellt werden
Statistisch wird die Diagnose ADHS mit wachsender Häufigkeit gestellt – voreilig, sagen kritische Stimmen. Denn nur bei den wenigsten Kindern, die Lernschwierigkeiten haben, anecken, unruhig oder aggressiv sind, besitzen diese Eigenschaften einen Krankheitswert. Wenn der Verdacht ADHS dann im Raum steht, kann dies immer nur ein Facharzt abklären, nicht der Kinderarzt. Eine Diagnose muss sehr sorgfältig gestellt werden, auch die Einschätzung von Eltern, Erziehern oder Lehrer ist hier von Bedeutung. In der offiziellen Behandlungsleitlinie zu ADHS heißt es: „Um eine ADHS Diagnose vergeben zu können, müssen die Symptome … und die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen auftreten.“ Ist es nur ein Lebensbereich, liegt wahrscheinlich eine andere psychische Störung vor.
Erfolg versprechend: Eine Kombination von Therapien
„Ohne angemessene und konsequente Behandlung besteht das Risiko lebenslanger Konsequenzen“, heißt es beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Zentrales Therapieziel ist es, die Auswirkungen von ADHS deutlich zu verringern und die Lebensqualität für Patienten und ihre Umgebung zu verbessern. So komplex wie das Krankheitsbild sind die Therapiemöglichkeiten. Als Erfolg versprechend gilt das „multimodale Konzept“: ein aus Therapiebausteinen verschiedener Disziplinen individuell zusammengesetztes Behandlungsspektrum aus psychosozialen, pädagogischen, psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen. Diese richten ihren Fokus auf den Patienten – beziehen aber auch Familie und persönliches Umfeld wie Lehrer oder Verwandte mit ein.
Wichtiger Teil der Therapie: das „Elterntraining“
Ein zentrales Element der nicht-medikamentösen Therapie ist das „Elterntraining“. In dieser psychologisch-pädagogischen Schulung lernen Eltern, ihr Kind besser zu verstehen, es in positivem Verhalten zu bestärken und in Problemsituationen zu Hause richtig zu reagieren. Hitzige oder überstrenge Reaktionen von Eltern können die Symptome noch verstärken; ein gelassenes und kompetentes Verhalten hingegen kann sogar eine heilsame Rückwirkung auf das Kind haben. Angeboten werden Elterntrainings von Verhaltenstherapeuten oder Universitätskliniken.
Medikamente nie ohne Psychotherapie
Studien zeigen, dass die Einnahme von Medikamenten die wirksamste Behandlung ist, um die Kernsymptome von ADHS zu mildern. Der Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin) etwa reguliert das Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn und setzt damit an der biologischen Ursache an. Die Kinder werden ausgeglichener, konzentrierter und können ihren (Schul-)Alltag leichter meistern. Damit entsteht oft erst die Voraussetzung für nicht-medikamentöse Therapien. Dennoch sind Medikamente bei ADHS nicht unumstritten und für sich alleine nicht die Lösung. Ein Psychiater sagt: „Die Kernsymptome verschwinden ohne Medikamente selten, aber man sollte sie niemals ohne Psychotherapie einsetzen." Die Leitlinien empfehlen, Ritalin nur bei ausgeprägten Symptomen und frühestens ab sechs Jahren einzusetzen. Als neue Behandlungsoption und Alternative zu Medikamenten bei ADHS gelten auch Verfahren der sogenannten Hirnstimulation.
Mozart: Genie dank ADHS?
Mit ADHS haben viele Patienten noch im Erwachsenenalter zu kämpfen. Bei 10 Prozent bleibt das Krankheitsbild vollständig erhalten, bei weiteren 35 Prozent ist der Alltag beeinträchtigt: unbewältigte Wäscheberge, ignorierte Termine, Beziehungsprobleme, Depressionen, Süchte. Die positive Seite: Erwachsene mit ADHS gelten oft als lebendig, spontan und kreativ. So vermuten Experten, dass Mozart zum Beispiel ADHS gehabt haben könnte.