Das „aerotoxische Syndrom“ führt zu einer schleichenden Vergiftung

Ungefilterte Kabinenluft: Ein Risiko für das aerotoxische Syndrom fliegt immer mit
Drei Milliarden Menschen sind jedes Jahr in einem Flugzeug unterwegs. Und die meisten wiegen sich in Sicherheit. Kaum einer dürfte indes schon mal was vom „aerotoxischen Syndrom“ gehört haben. Dabei wächst die Zahl geschädigter Passagiere und Crewmitglieder seit Jahren. Betroffene klagen über Kopfschmerzen, Schwindel, Taubheitsgefühle und Gedächtnisprobleme. Und das ist erst der Anfang: 2012 starb der 43-jährige British-Airways-Pilot Richard Westgate an der schleichenden Vergiftung. Er selbst war überzeugt, am aerotoxischen Syndrom erkrankt zu sein, und vermachte noch zu Lebzeiten seinen Körper der Wissenschaft. Der mit der Obduktion beauftragte Gerichtsmediziner Dr. Frank van de Goot konnte den Verdacht trotz anfänglicher Skepsis schließlich bestätigen. “Ich sah dort sofort das, was man erwarten konnte, wenn diese gesamte Theorie über kontaminierte Kabinenluft wahr sein sollte“, zitiert ihn die online-Ausgabe der „Welt“ vom 30. Juni 2014. „Mit diesen Nervenschädigungen konnte ich die Existenz eines aerotoxischen Syndroms nicht mehr ausschließen.”
Vergiftung auf Raten - Nerven- und Gehirnzellen sterben ab
Erhärtet wurde der Verdacht durch eine toxikologische Untersuchung: Laut der "Welt" wurden Proben von Westgates Herzmuskel, seines Klein- und Großhirns, des Rückenmarks und der entnommen Nerven an Professor Mohamed B. Abou-Donia von der Duke-Universität in den USA geschickt. Der Vergiftungsspezialist, der bereits das Rätsel um das „Golfkriegs-Syndrom” lösen konnte, fand in Westgates Blut schließlich Hinweise auf Vergiftungen durch Organe-Phosphate, wie sie in Triebwerksölen verwendet werden. Schon seit Jahren warnt der Wissenschaftler vor den Folgen von kontaminierter Kabinenluft. „Die Stoffe die hier freigesetzt werden, verursachen das Absterben von Nervenzellen und Gehirnzellen. Je länger man diesem Phänomen ausgesetzt wird, umso mehr Zellen sterben und wir sehen chronische Effekte”, sagt er der “Welt”.
Giftige Öldämpfe gelangen ungefiltert in die Kabine
Mehr als zwei Jahre lang hat der Berliner Filmemacher und Luftfahrtsicherheitsexperte Tim van Beveren die medizinisch-pathologischen Untersuchungen begleitet. Sein Dokumentationsfilm „Ungefiltert eingeatmet - Die Wahrheit über das Aerotoxische Syndrom“, kommt am 15. Juli in die Kinos.
„Was die meisten Passagiere nicht wissen: Die Luft, die sie an Bord atmen, wird ungefiltert von den Triebwerken abgezapft“, sagt van Beveren. Dadurch könnten giftige Dämpfe in die Kabine gelangen, die beim Verbrennen von Öl in den Triebwerken, sogenannten „Fume Events“ entstünden. „Wobei Öl harmloser klingt, als es ist“, betont van Beveren. „Denn die Turbo-Öle der Flugzeugindustrie enthalten einen ganzen Cocktail giftiger Stoffe, darunter auch Nervengifte aus derselben chemischen Familie wie das berüchtigte Kampfgas Sarin.“
In seiner zweistündigen Dokumentation zeigt van Beveren auf, wie das Problem der krankmachenden „Zapfluft“ seit Mitte der 90er Jahre von der Industrie geleugnet oder beschwichtigt wird. Bei seinen Recherchen bekam er interne Dokumente und bislang geheim gehaltene Studien der Industrie zugespielt, die belegen: Ungefilterte Kabinenluft macht krank. „Ich habe mit Menschen gesprochen, die unter verschiedensten neurologischen Schäden leiden, Dinge vergessen oder massive Wortfindungsstörungen haben - je nachdem, wie schwer sie es abbekommen haben und wie lange sie schon damit zu tun haben“, sagt van Beveren.
Erste Warnungen gab es bereits in den 50er-Jahren
Dass das Phänomen überhaupt einen Namen hat, ist einer Gruppe internationaler Wissenschaftler aus Frankreich, den USA und Australien zu verdanken. Sie fassten die verschiedenen Krankheitssymptome, die durch Öl-Dampfvorfälle in Flugzeugkabinen ausgelöst werden können, 1999 als „aerotoxisches Syndrom“ zusammen. Dennoch wird das Krankheitsbild bis heute nicht im WHO-Katalog der bekannten und anerkannten Krankheiten geführt.
Wer selber recherchiert, findet allerdings schnell heraus, dass das Phänomen weitaus bekannter und verbreiteter ist, als gedacht. Die Aerotoxic Association, die Geschädigte unterstützt, sammelt seit Jahren handfeste Beweise zum "best gehütetsten Geheimnis der Luftfahrtindustrie". Der erste geht bereits auf das Jahr 1955 zurück. Auch die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig kommt in einer 2014 publizierten Studie zu dem Ergebnis, dass Fume Events zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Passagieren und Flugzeugbesatzungen führen können. In zehn untersuchten Fällen wird von Langzeitschäden berichtet. Zuletzt hatten Anfang Juni 17 Crewmitglieder von British Airways angekündigt, ihren Arbeitgeber zu verklagen – auch sie sind sicher, durch das aerotoxische Syndrom krank geworden zu sein.
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